China

Barbara Lange

Von Nähmaschinen und Hausmeistern

30.03.2024

Heute war der erste Tag von meinem Aufenthalt in Shaoxing. Pang hatte sich mit einem hervorragenden Essen in einem Fischrestaurant von mir verabschiedet und mich einem Fahrer übergeben, der mich direkt in das Kreativzentrum von Shaoxing gefahren hat. Dort wurde ich bereits von Sammi erwartet. Sammi ist die Sekretärin von Mr. Yang. Den beiden habe ich meinen Aufenthalt hier zu verdanken.

Sammi hatte im Auftrag von Mr. Yang dafür gesorgt, dass mein Atelier mittlerweile hergerichtet wurde. Neben einem grossen Schreibtisch, einem riesigen Zuschneidestisch und einer eigens angefertigten Designwand stand dort die B 790 PLUS, die mir BERNINA freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Sie war noch original verpackt. Neben meinem Atelier arbeiten vier chinesische Quilterinnen. Es hatte sich wohl mittlerweile rumgesprochen, dass die Deutsche eine besondere Maschine geliefert bekommen hatte. Alle wollten jetzt erleben, wie das kleine Wunderwerk ausgepackt wird. Unter den Augen der vier Frauen, von Sammi, dem Hausmeister und einem kleinen Kind, das zwischendrin auch noch rumsprang, wurde das edle Teil ausgepackt. Kurz vor Beginn der Reise hatte ich schon etwas Zweifel bekommen, ob der Aufwand mit dieser Maschine wirklich gerechtfertigt war, oder ob ich nicht mich einfach mit einer der Nähmaschinen vor Ort hätte zufrieden geben können. Vergangene Woche in Ningbo habe ich diese Zweifel wieder sehr schnell beiseite geschoben. Ann allerdings musste die Maschine, an der ich immer demonstriert habe, nach der ersten Woche ausgetauscht werden. An den Nachmittagen konnte ich an der elektronischen Maschine von Pang arbeiten. Das war zwar eine deutliche Verbesserung, aber auch diese Maschine zog ständig den Unterfaden hoch, ohne dass ich mir erklären konnte, warum. Ich bekam das Problem zwar etwas in den Griff, als ich meine eigenen Nadeln von Schmetz in die Maschine eingebaut habe, aber auch die beste Nähmaschinennadeln können keine Wunder bewirken.

Wenn ich eins nicht leiden kann, dann ist es Werkzeug, das zickt. Ich gebe an dieser Stelle ehrlich zu, dass ich, was Werkzeug betrifft, verwöhnt bin. Aber es ist schön, mit dem Werkzeug arbeiten zu können, das man geöhnt ist und schätzt.

Deshalb war ich heilfroh, als die Bernina aufgebaut war und lief. Ich fragte eine der Damen, ob sie die Maschine ausprobieren wollte – die Neugier stand ihr unverhohlen ins Gesicht geschrieben. Sie setzte sich an die Maschine und stellte nach kurzer Zeit fest: „Die Naht sieht ja oben und unten gleich aus.“ Ja – das soll sie auch…? „Unsere Maschinen tun das nicht.“ Ich weiß jetzt nicht so genau, ob sie das mit Stolz oder mit Erstaunen festgestellt hat. Für mich war auf jeden Fall jetzt sonnenklar, dass Bernina einen wesentlichen Anteil daran hat, wenn diese Reise ein Erfolg wird.
Ein Thema mit dem ich nicht so ganz gerechnet hatte, war wie der Arbeitsalltag rund um mein Studio organisiert sein würde. Wie gesagt arbeiten hier vier Frauen, die von Montag bis Samstag jeweils von 8 Uhr bis 17 Uhr hier sind. Eine davon soll mir als Assistentin zugeteilt werden. Das klingt alles wunderbar, ich stelle mir das auch nett vor, aber ich habe ich noch nie mit einer Assistentin zusammengearbeitet. Ich weiß gar nicht so recht, welche Aufgaben ich einer anderen Person übertragen kann. Noch dazu fühle ich mich dann verantwortlich, eine Assistentin um 17 Uhr nach Hause gehen zu lassen, wobei ich selbst gerne bis spät in die Nacht hinein arbeite. Mein erstes Anliegen ist also, dass ich einen eigenen Schlüssel zu der Anlage bekomme. Das finden die Chinesen zwar etwas merkwürdig, aber mir ist das wichtig. 

Da heute Samstag ist und es mittlerweile auf 17 Uhr zugeht, möchte ich die Leute auch nicht von ihrem Feierabend abhalten. Allerdings brauche ich schon etwas Hilfe, um mich hier zu orientieren. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich etwas zum Abendessen herbekomme. Sammi zeigt mir also ein paar Lokale in unmittelbarer Umgebung. Der Hausmeister des Museums schließt sich uns an, obwohl mir nicht ganz klar ist, warum. Er scheint so eine Art Faktotum zu sein. Überall, wo sich im Museum etwas gerade rührt, ist er dabei. Also auch jetzt bei der Restaurant-Erkundung. Das macht zwar keinen Sinn, aber bitte. Zwei Minuten später erklärt mir Sammi, dass sie Eis im Auto hat und ihre Kinder schon sehnsüchtig auf sie warten, sie würde also jetzt nach Hause fahren und der Hausmeister würde mit mir zum Essen gehen. Jetzt machte es plötzlich doch Sinn. Oder auch nicht. Der Hausmeister spricht nämlich fast kein Englisch. Das Lokal, in das das Faktotum wollte, war knallvoll. Er erklärte mir freudestrahlend, dass wir in zweieinhalb Stunden einen Tisch bekommen würden. Ich denke mich laust der Affe. Zweieinhalb Stunden mit diesem illustren Begleiter totzuschlagen, bevor das Essen überhaupt losgeht, war jetzt nicht genau das, was ich mir heute vorgestellt hatte. Also suchten wir eine Alternative. Wir landeten schliesslich in einem kleinen Lokal unmittelbar unterhalb von meinem Hotelzimmer.

Der Hausmeister setzte mich ab und zog nochmal los, um Wein zu besorgen. Es ist hier völlig üblich, Getränke oder Kuchen in ein Restaurant mitzubringen. In der Zwischenzeit wollte ich mich mit dem Wasser begnügen, dass in einer Kanne bereits auf dem Tisch stand und schenkte mir ein. Als der Hausmeister wieder erschien, hatte er eine Flasche gelben Wein dabei – eine Spezialität, die man nur im der Gegend von Shaoxing bekommt. Ich hatte den Wein bei einem vorangegangenen Besuch bereits einmal getrunken. Es gibt einen Grund, warum der keinen Siegeszug um die Welt angetreten hat. Jedenfalls nahm das Faktotum von dem Wasser in der Teekanne und spülte damit erstmal sein Glas und die Reisschüssel, die jeder vor sich stehen hat. Verflixt, das Wasser in der Kanne war zum Spülen gedacht. War ich froh, dass er nicht gesehen hat, dass ich beinahe das Waschwasser getrunken hätte. Jedenfalls schenkt er uns beiden ein, ein Gläschen habe ich aus Höflichkeit mitgetrunken, aber für mehr konnte ich mich echt nicht erwärmen. Bei diesem ersten Glas habe ich erfahren, dass mein Gegenüber Jin heißt, und im Museum tatsächlich für alles zuständig ist, was nicht unmittelbar mit nähen zu tun hat. Außerdem hat er zwei Söhne, spielt gerne Basketball und ist der Schwager von Sammi. Ein Hoch auf die moderne Technik und die Übersetzungsprogramme. Er bestellte zwei Gerichte und dazu einen Teller mit gerösteten Erdnüssen. Irgendwann kommt der Punkt, wo die kleine Stimme im Hinterkopf dann doch fragt, wie es dazu kommen konnte, dass ich jetzt hier mit dem Mädchen-für-alles in einer chinesischen Kneipe hocke und mit Stäbchen Erdnüsse esse. Als unsere Gerichte kamen, hat Jin Cheng die überhaupt nicht angefasst. Er begnügte sich mit den Erdnüssen und trank Wein. Dann traf er ein paar Kumpels, schnorrte sich von denen eine Zigarette und fing an, direkt gegenüber von mir eine zu rauchen. Die Stimme in meinem Hinterkopf fing an immer bohrendere Fragen zu stellen. Er kümmerte sich einerseits rührend, andererseits fand ich es  befremdlich, dass er nichts essen wollte außer seinen Erdnüssen. Schließlich war die Flasche leer. Er stellte seinen Reislöffel in sein Wasserglas, füllte seine Reisschüssel mit dem Wasser aus der Kanne und trank es. Doch kein Waschwasser. Aber so ganz rund läuft das hier auch nicht ab. Oder bin nur ich das?

Auch der skurrilste Abend hat irgendwann ein Ende. Als die Stimme in meinem Hinterkopf schon fast ein Plakat aufstellen wolle „Wie kommen wir hier wieder raus?“ drückte er seine zweite Zigarette aus und verkündete der Abend sei vorbei. Er begleitete mich bis zum Aufzug vom Hotel und winkte mir nach, bis die Aufzugstüren sich geschlossen hatten.