Wenn man Wikipedia Glauben schenken möchte, dann hat Hefei 8 Millionen Einwohner und null Sehenswürdigkeiten. Wenn man sich das Meer von Hochhäusern anschaut, das sich vom Bahnhof für Hochgeschwindigkeitszüge aus in alle Richtungen erstreckt, möchte man das mit den 8 Millionen Einwohnern sofort glauben. Das wird den Sehenswürdigkeiten ist immer relativ.
Ich bin hier, um an der landwirtschaftlichen Hochschule einen Vortrag zu halten, den Professor Yuan organisiert hat. Yuan ist in China, quasi Quilt-Adel. Er ist bekannt für seine Landschaftsbilder, die er ausschließlich aus Jeans herstellt. Und ich meine: wirklich bekannt. Auf jeder Ausstellung, die ich in China bislang gesehen habe, war mindestens eine seiner Arbeiten vertreten. Manche davon sind bis zu 15 m lang. Er verwendet dabei eine ähnliche Technik wie Ian Berry, von dem er sich vor über zehn Jahren hat inspirieren lassen. Nach meinem Vortrag darf ich sein Studio besichtigen. Eigentlich hatte ich ein großes, helles Studio mit hohen Decken erwartet. Was mich erwartet, ist in etwa das Gegenteil. Yuans Atelier ist in der alten Bibliothek der Universität untergebracht. Das Gebäude wurde voll knapp 100 Jahren gebaut. Wenn man in dem langen, schmalen Raum mit niedriger Decke steht, sieht man förmlich vor seinem geistigen Auge die langen Bücherregale von früher noch stehen. In diesem Studio erstellt Yuan mit Hilfe von Schüler:innen seine Kunstwerke. Überall sind abgelegte Jeans zu finden, teilweise sind die dicken Seitennähte abgetrennt worden. Ich entdecke mehrere Serien: eine zu den 24 Jahres-Phasen, die die Chinesen zusätzlich zu den Jahreszeiten beachten, eine zu den chinesischen Tierkreiszeichen, eine weitere stellt die Institute der Universität da und noch wieder andere sind Neuinterpretationen von historischen Gemälden bekannter chinesischer Maler. Wie jedes Mal beeindrucken mich die Bilder sehr. Juan klebt allerdings seine Bilder, jede Naht, die man entdeckt, war vorher bereits in einer getragenen Jeans vorhanden. Das ist kein Makel, wirft aber die Frage auf, ob er bei Quiltausstellungen wirklich so gut aufgehoben ist.
Nach der Besichtigung setzen wir uns zu einem gemeinsamen Gespräch mit ein paar Studentinnen hin. Wie überall auf der Welt, macht sich auch Yuan Sorgen, wie seine Student:innen eines Tages nach dem Studium mit Patchwork einen Lebensunterhalt verdienen könnten. In China ist diese Frage für die Hochschulen noch bristanter, weil sie bereits jetzt den Rückgang der Studienanfänger zu spüren bekommen. Chinas Bevölkerung schwindet. Die ersten Kindergärten haben bereits geschlossen. Es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahen, ehe diese Entwicklung auch die Universitätn betreffen wird. Der Wettbewerb ums Überleben hat bereits begonnen. Nur wer interessante Studiengänge anbietet, die den Student:nnen eine Perspektive bieten, wie sie nach dem Studium gut verdienen könne, wird überleben. Yuan beschäftigen Fragen wie: „Wie könnte man diese Technik rationalisieren und damit schneller umsetzen?“ Eigentlich finde ich es schade, wenn diese Technik beschleunigt werden würde, ich befürchte, dass dann nicht so viele Details übrig bleiben würden. Und davon leben die Arbeiten. Aber die Künstler müssen auch von irgendwas leben, ist mir schon klar.
Am Abend geben Yuan und seine Frau ein gemeinsames Fest. Er hat Mr. Yang und mich eingeladen, seine Ehefrau hat Besuch von ihrem Chef, der aus Malaysia kommt und der Mitglied des Kulturrats von Malaysia ist. Dazu gesellen sich noch ein paar Freunde und Kollegen des Ehepaares. Beim Betreten des Restaurants trägt Johann zwei große Tüten, Mr. Yang gibt mir mit Zeichensprache zu verstehen, dass sich in den Tüten Schnaps und Bier befinden. Es wird ein lustiger Abend. Mr. Yang versucht den Malaien zu überzeugen, eine Patchwork-Ausstellung in Malaysia zu organisieren. Der ist auch gar nicht abgeneigt, wobei ich leise Zweifel habe, ob den beiden Herren klar ist, worauf sie sich gerade einlassen. Man wird sehen was dabei herauskommt. Auf jeden Fall wird mehrfach auf diese Ausstellung angestoßen. Und nochmal. Ach was soll’s, einer geht noch.
Am kommenden Tag sehen wir alle miteinander nicht so ganz taufrisch aus, Mr. Yang und ich machen uns trotzdem zusammen mit einer Kollegin von Yuan auf den Weg zum Kunstmuseum von Anhui. Also, warum Wikipedia nicht zumindest das als Sehenswürdigkeit aufgelistet hat, ist mir völlig schlierig. Das Museum ist gigantisch. Und das sage ich, wo ich eigentlich nicht diejenige bin, die sich stundenlang in Museen herumtreibt.
Im obersten Stockwerk ist eine Ausstellung zu Druckgrafiken zu sehen. Einen zweiten Stock gibt es nicht, diese Ebene besteht eigentlich nur aus einer Plattform zwischen zwei Treppen. Auf dieser Plattform steht ein Flügel, an dem eine Konzertpianistin sitzt und die akustische Untermalung zu dem Museumsbesuch gestaltet. Im Erdgeschoss findet man den Bereich für Sonderausstellungen. Hier sind Gemälde von chinesischen und französischen Malern zu finden, Anlass sind die Olympischen Spiele in Paris. Hier finde ich zum ersten Mal wirklich moderne Kunst von chinesischen Malern. Überall sonst, wo ich bisher war, steht die Rückbesinnung auf alte chinesische Werte im Vordergrund. Hier ist zwar immer noch die chinesische Identität ein wichtiger Bestandteil des Bildes, aber derart moderne Interpretationen habe ich bisher überall vermisst.
Im Untergeschoss des Museums geht es dafür umso traditioneller zu. Die Ausstellung ist den zwölf Schönheiten von Jinling gewidmet, die in dem klassischen Meisterwerk „Traum der Roten Kammer“ von Cao Xueqin vorkommen. Das Thema mag klassisch sein, die Aufmachung ist es definitiv nicht. In einem Teil der Ausstellung besteht der Boden aus einer Projektion eines Goldfischteichs, über die man laufen kann. Im nächsten Raum wird eine 3D-Animation an die Wände projiziert. Beim Zuschauen steht man unweigerlich breitbeinig da, wie ein Seebär auf seinem Kutter. Von dem Roman hatte ich bisher noch nie gehört. Er handelt unter anderem von der sozialen Unterdrückung von Frauen. Dass ein Autor in China sich um 1750 dieses Themas annimmt finde ich beachtlich. Ich nehme mir vor, das Buch zu lesen, wenn ich wieder in Deutschland bin.
Nachmittags ist kein Programm vorgesehen, ich mache mich also allein auf dem Weg, um einen Stadtpark mit einem kleinen See zu erkunden, den ich auf Google Maps entdeckt habe. Was Landschaftsplanung und -gestaltung angeht, sind die Chinesen wirklich ganz vorne. Jeder Stadtteil, der was auf sich hält, hat einen eigenen Park. Gefühlt findet man an jeder Straßenecke eine Grünanlage. Und auch dieser Stadtpark enttäuscht nicht. So ein bisschen wirkt er, wie ein versteinerter Zoo. Überall findet man großes Skulpturen von Giraffen, Tigern, Hirschen, Vögeln, Eisbären, an denen man vorbeischlendert, wie man es sonst nur in einem Zoo machen würde. Und die Chinesen nutzen ihre Parks wirklich ausgiebig. An einer Stelle stoße ich auf ein Gebäude, bei dem mir nicht ganz klar ist, ob es sich um ein Restaurant oder um einen Tempel handelt. Der Tempel gewinnt. Ich schaue vorsichtig hinein – drinnen befinden sich drei Mönche, die gerade etwas Ordnung schaffen, deswegen möchte ich nicht stören und ziehe bald wieder weiter. Als nächstes stolpere bei einem kleinen See über eine Gruppe von älteren Herren, die sich hier anscheinend nachmittags zu einem täglichen Bad treffen. Die Luft ist erfüllt von den Klängen einer Gruppe, die offensichtlich gerade mehrere Musikstücke üben. Und ich sage absichtlich nicht „spielen“. „Üben“ trifft es aufs Genaueste. Vielleicht wollten sie ihre Nachbarn nicht stören, vielleicht haben besagte Nachbarn sie aber auch an die frische Luft gesetzt, man weiß es nicht, jedenfalls wäre man mit solchen Nachbarn wirklich gestraft.
An dieser Stelle befinde ich mich auch gleichzeitig am anderen Ende des Parks. Laut meinen Stadtplänen müsste ich kurz an der Straße entlang gehen, einen kleinen Bach überqueren und könnte dann auf der anderen Seite des Sees wieder zu meinem Hotel zurücklaufen. Irgendwie wird da nichts draus. Überall, wo sich der Weg wieder Richtung Wasser bewegen würde, sind Schranken. Ich gehe also immer weiter und versuche doch noch einen Weg zurück zum See zu finden. Ein etwas größerer Weg scheint vielversprechend, aber als ich am Ende des Wegs ankomme, bin ich zwar wieder am Wasser, aber auch gleichzeitig mitten in einer Baustelle. Ich muss einen großen Teil des Wegs zurückgehen. Ich schlage mich also an der Hauptstraße entlang zu meinem Hotel zurück. Als ich dort ankomme, bin ich klatschnass geschwitzt. Bravo. Genau das hatte ich heute Nachmittag vor. Unten im Hotel befindet sich ein Café. Ich besorge mir ein Getränk, das zur Hälfte aus Grapefruitsaft und zu anderen Hälfte aus Kaffee besteht. Ich habe schon besseres getrunken, allerdings auch schlechteres. Merkwürdiges wahrscheinlich nicht. Also DAS Getränk wäre wirklich einen Eintrag als Sehenswürdigkeit in Hefei wert.