China

Barbara Lange

Changchun

17.04.2025

 Changchun soll es angeblich immer kalt sein. Die Stadt gibt bei meiner Ankunft alle Mühe, ihrem Ruf gerecht zu werden. Als ich ankomme, liegt gut 5 cm Schnee. Zwei Damen und ein Herr erwarten mich. Sie tragen hohe Winterstiefel und haben eine Decke dabei, falls ich frieren sollte. Zum Glück ist das nicht nötig, ich war auf das Wetter gefasst. Und das soll was heißen. Ich habe ein Talent dafür, immer die falschen Klamotten einzupacken. Wer mit Sommerkleidern nach Changchun reist, ist wirklich selber schuld.           
In Changchun soll ich erst die Kunsthochschule Jinling besuchen und danach das Technologische Institut von Changchun. Beide stehen im Ruf, zu den besten Universitäten Chinas zu gehören. Beide liegen direkt nebeneinander. Nur mein Hotel steht zwischen den Gebäuden. Das Hotel ist piekfein. Und vermutlich eine der teuersten Adressen der Stadt. Das liegt daran, dass die begehrteste Grundschule von Changchun nur 100 m weit entfernt ist. Um sein Kind in dieser Schule anmelden zu können, muss man im Universitätsviertel wohnen. Das wäre auch in Deutschland Grund genug, dass alle Eltern an dem Wohngebiet interessiert wären. In dem bildungsbesessen Reich der Einzelkinder setzen die Eltern noch eins drauf. Eine 30m² Wohnung in diesem Viertel kostet 375.000 €. Mit Gemeinschaftsklo auf dem Flur. Für eine 3-köpfige Familie nicht gerade einfach. Mein Zimmer hat ca. 45m². Und ein riesiges Bad mit Badewanne. Die werde ich heute Abend schamlos ausnutzen. 

Noch ist es nicht soweit. Es ist 14 Uhr. Im Foyer werde ich von dem Professor für

Modedesign der Jingling Universität erwartet. Er wird von zwei Studentinnen und einem Studenten begleitet. Was ich denn heute noch unternehmen möchte? Ich bin für alles offen. Vielleicht 1/2 Stunde aufs Zimmer gehen, frisch machen und dann losgehen, Sightseeing machen? „Ja, super! Machen wir! Wir holen dich um 17:00 Uhr ab!“ Ähhh…. irgendwie reden wir hier gerade aneinander vorbei. Aber egal. Ich bin immer noch angeschlagen, es ist draußen kalt und ungemütlich.  17:00 klingt irgendwie auch verlockend. Und das Sightseeing kann warten, da ich drei Tage hier sein werde. Ich gehe aufs Zimmer und schlafe prompt ein. Um 17:00 holt mich eine der Studentinnen ab und wir fahren in ein Restaurant, das in Changchun als eine der ersten Adressen gilt, wenn man Dumplings essen möchte. Dazu gibt es eine Art Peking-Ente (also mit frischem Gemüse, das in Streifen geschnitten wurde und kleinen Pfannkuchen, um alles wie in einem Wrap einzuwickeln). Nur dass man hier statt Ente gebratenen Schinken dazu isst. Normalerweise sind Stäbchen für mich kein Problem. Heute scheitere ich kläglich. Der Professor bestellt für mich zwei mini-Gabeln, die eher nach Puppengeschirr aussehen. Peinlich. Ich bin außerdem wildentschlossen, den Kampf mit den Stäbchen doch noch zu Gewinnen. Nach dem Essen bleibt in China gefühlt immer die Hälfte übrig. Allerdings ist es üblich, dass die Gäste alles einpacken und mit nach Hause nehmen. Jetzt kämpfen der Professor und der Student mit dem Schinken, um ihn in eine Tüte zu packen. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen und biete ihnen die Gabeln an….

 nächsten Tag werde ich erst um 11:30 Uhr abgeholt. Als erstes geht es wieder in ein Restaurant, wo wir einen professionellen Dolmetscher treffen. Hurra! Das macht es so viel einfacher. Ich stehe sonst immer vor dem Problem, ob ich ein Skript zu meinem Vortrag herausgebe oder nicht. Mit Skript ist doof, weil die Erfahrung zeigt, dass dies dann von irgendwelchen unerfahrenen Studenten übersetzt wird. Wenn ich auch nur ein Wort in meinem Programm abweiche, sind sie verloren. Ohne Skript hingegen sind im Vorfeld alle nervös. Ich bilde mir ein, dass mir höher qualifizierte Übersetzer zur Verfügung gestellt werden, wenn ich kein Skript anbiete. Das ist einerseits gemein, andererseits gebe ich mir echt Mühe, im Vortag nur einfache Vokabeln zu verwenden. Das System hat sich bewährt. Heute auf jeden Fall. Wir unterhalten uns bei süßen und herzhaften Pfannkuchen. Der Dolmetscher hat sich über Patchwork informiert. Er war auf der Seite der Gilde und der Modern Quilt Guild unterwegs. Er klärt nur ein paar Spezialbegriffe zum Nähen und schon geht es los. Es läuft wie geschmiert.  Wie so oft im Leben bewahrheitet sich der Spruch: You get what you pay for. Gute Übersetzer sind bestimmt teurer als Studenten, aber alle Beteiligten profitieren einfach auch mehr davon.

Nach dem Vortrag darf ich das Atelier des Professors besuchen. Seine Studenten arbeiten gerade an ihren Abschlussarbeiten und entwerfen dafür ganze Kollektionen. Ich bin schier elektrisiert. Sie zeigen mir einige neue Techniken, die für mich interessant werden können. Sobald ich zuhause bin, muss ich erstmal recherchieren. 

Am nächsten Tag werde ich von zwei Professorinnen der Technischen Universität „übernommen“. Die eine unterrichtet Modedesign, die andere Englisch. Sie macht gerade ihren Doktor. In Südkorea. Wie das zusammengeht, bleibt mir ein Rätsel. Sie gibt sich in den kommenden 3 Tagen redlich Mühe – die Zeit wird für uns beide anstrengend. Auf ihr Bitten und um nicht ungefällig zu sein, gebe ich ihr meine Präsentation mit den Notizen, mit dem Hinweis,  dass da viele Hintergrundinformationen drin sind, die sie mit 99%iger Wahrscheinlichkeit nicht brauchen wird. Die dienen nur zur Sicherheit, falls Fragen kommen. Sie bleibt bis nachts um 2:00 Uhr auf, um alles zu übersetzen. Und braucht im Vortrag dann nur einen Bruchteil davon. 

Zwischen den Vorträgen habe ich einen freien Tag. Wie immer hatte Sammi sehr klar gemacht, dass ich die Zeit nutzen möchte um etwas anzuschauen.  Nach meiner Ankunft hatte ich wie gesagt nicht darauf bestanden, aber heute ist das Wetter besser und diesen Tag möchte ich wirklich nutzen.

Changchun ist der Ort, den die Japaner Ende der 30er Jahre vorgesehen hatten, die Hauptstadt der mandschurischen Provinz zu werden, die sie nach der Besetzung des nördlichen Chinas errichtet hatten. Der gestürzte letzte Kaiser Chinas PuYi wurde von den Japanern als Marionette eingesetzt, um als „Kaiser“ die Manscherei zu „regieren“. Die einzige Macht, die PuYi während seiner kurzen Regentschaft hier hatte, war dass er ein Mitspracherecht bei der Gestaltung seines Palastes hatte. Er wollte ihn nach Vorbild der Verboten Stadt in Peking errichten lassen. Den Japanern schwebte etwas Moderneres vor. Und etwas Japanischeres. Schlussendlich konnten beide Vorstellungen nicht umgesetzt werden. Der zweite Weltkrieg hat Rohstoffe so verknappt, dass das Bauvorhaben eingestellt werden musste. Diesen Palast des imperialistischen Marionettenkaisers, wie er heute genannt wird, möchte ich also besuchen. Meine Begleiterinnen entschuldigen sich 1000 Mal, dass dieser Palast nur sehr klein sei und keinen Vergleich mit der Verbotenen Stadt standhält. Egal. Gerade das ist ja interessant. Wir machen uns auf den Weg. Während der Bauzeit kam PuYi mit seinen Ehefrauen in einem kleineren Haus behelfsmäßig unter. Von dem Bauvorhaben ist ein relativ kleines Gebäude erhalten, das wie eine Mischung aus chinesischen, japanischen und europäischen Elementen wirkt und das PuYi kaum genutzt hat. Er hatte hier zwar eine offizielle Wohnung, in der er aber nicht übernachten wollte, aus Angst, von den Japanern abgehört zu werden. Die Räumlichkeiten, die für seine Hauptfrau vorgesehen waren, wurden von einer 15-jährigen Konkubine bewohnt, die unter strengster Aufsicht stand. Unglücklicher Gesichtsausdruck: nicht gestattet. Man mag sich ihre Einsamkeit gar nicht vorstellen. 

An dieser Stelle muss ich mal darauf hinweisen, dass diese „Babysitter-Dienste“ für meine chinesischen Gastgeber auch kein Pappenstiel sind. Sie fahren mich an Orte, die sie selbst auch nie oder wenn, dann nur selten besuchen. Sie kennen sich in den seltensten Fällen an diesen Sehenswürdigkeiten aus und müssen sich durchfragen und informieren. Das erfordert echtes Engagement und ist bestimmt nicht einfach. In diesem Fall kommt dazu, dass beide Professorinnen keine geübten Autofahrerinnen sind. Das wird im Stadtverkehr sehr schnell deutlich. Wir werden links und rechts angehupt. Ich kann die anderen Verkehrsteilnehmer verstehen. Ich bin versucht, uns selbst anzuhupen. Das käm vermutlich nicht gut. Es gipfelt darin, dass wir nach dem Mittagessen eingeparkt sind. Ohne Übung kommt ein Fahrer aus diesem Parkplatz nicht raus. Die Modedesignerin ist völlig überfordert. Daher frage ich, ob ich es probieren soll. Es ist das erste und einzige Mal, dass ich in China hinter dem Steuerrad sitze. Ich habe Glück und die Fahrerin, die ihr Auto so ungünstig abgestellt hat, taucht auf und fährt ihren Wagen weg. Aber auch so ist es noch eine ordentliche Kurbelei, uns aus dieser Lücke hinauszumanövrieren. Die beiden sind glücklich, dass es gelingt.

Nach dem Palast geht die Fahrt zu einem Shopping-Center, in dessen Tiefgeschoss ein Museum für chinesische Kunstgeschichte untergebracht ist. Das Museum ist klein aber fein. Es beherbergt Porzellan, Möbel und Skulpturen aus der Ming und Ching Dynastie. Der Höhepunkt jedoch ist ein originaler Mantel, der einst von einem Kaiser aus der späten Ching-Dynastie getragen wurde. Der Mantel wird normalerweise nicht gezeigt. Er ist nicht Teil der Ausstellung und liegt ausgebreitet in einem Nebenraum, in den wir hineindürfen, weil die Professorinnen ihre Beziehungen spielen lassen. Das Kleidungsstück ist stark beschädigt und vermutlich nicht mehr reparabel. An manchen Stellen sieht er aus, als ob eine Mäusefamilie eine rauschende Party gefeiert hätte. Dafür sind die Farben erstaunlich gut erhalten. Die Kossu-Seiden-Tapisserie zeigt sich in Farben, die man fast als Neon-Farben bezeichnen könnte. Was Kossu-Tapisserie  genau ist, muss ich zuhause nachschauen. Das Internet hier ist nicht sehr kooperativ. (Ich komme auf meine Webseite, kann aber nichts googeln).

Am Abend schleichen wir auf der Suche nach einem kleinen Snack über den Nachtmarkt, der sich gegenüber vom Hotel befindet.  Ich war mittlerweile so oft in China und trotzdem sehe ich hier Sachen, die ich noch nie vorher zu sehen bekommen habe. Angebrütete, gekochte Eier in allen Entwicklungsstadien. Gegrillte Seidenraupen. Gegartes Knochenmark, dem diverse Geschmacksrichtungen mittels Spritze hinzugefügt wird. Da wirken die frittierten Tausendfüßler und gegrillten Schweinefüße fast harmlos.

Überhaupt ist das Essen hier völlig anders, als alles, was ich bisher im südlichen China bekommen habe. Einerseits gibt es hier viel Barbecue, andererseits Pfannkuchen, die wirklich gut sind. Aber direkt nach meiner Ankunft war ich sofort gefragt worden, ob ich auch Hundefleisch essen würde. Das sei gesund und würde bei meiner Erkältung helfen. Mich hat es schier von den Socken gehauen. Bei meinen früheren Reisen hatte ich gelesen, dass es seit 2015 in China verboten ist, Hunde zu essen. Heute erfahre ich, dass es Ausnahmen gibt für Minoritäten, zu deren Kultur es gehört, Hundefleisch auf die Speisekarte zu setzen. Meine Übersetzerin meint, in Chang Chun wäre dies der koreanischen Minderheit erlaubt. Angesichts der Tatsache, dass man in Süd-Korea selbst auch keine Hunde mehr isst, erscheint das direkt etwas anachronistisch. Ich spreche eine der Studentinnen, die aus Changchun stammt, darauf an. Sie fällt aus allen Wolken. Es scheint also eher eine Seltenheit zu sein.

Um mir zu zeigen, dass an der Geschichte etwas dran sei, führt mich die Englisch-Professorin am Abend nach unserem Vortrag zu einem koreanischen Restaurant, in dem angeblich Hund serviert wird. Allerdings stellt sich heraus, dass dieses Restaurant dafür keine Lizenz hat. Ich bin durchaus erleichtert. Ende vom Lied ist, dass ich nach wie vor auf meinen Reisen nach China kein Restaurant gesehen habe, in dem Hund angeboten wird. Aber mittlerweile ist mein Glaube, dass dies nirgends zu finden sei, nachhaltig erschüttert.

Der Vortrag ist übrigens gut gelaufen. Am Vormittag hatte ich einen kurzen Workshop für die Studenten gehalten. Der war insofern etwas ungewöhnlich, als in dem Schulungsraum ca. 20 Industriemaschinen zur Verfügung standen, und ca. 40 Stundent:innen anwesend waren. Es war aber nur Material für 20 Teilnehmer:innen vorgesehen, die sich dann auch noch jeweils eine Maschine geteilt haben. Im Endeffekt haben hier also 20 Personen an 10 Maschinen gearbeitet. Die anderen 20 Student:innen wurden dazu verdonnert, zuzuschauen. Angeblich wären sie noch nicht so weit, um mitmachen zu können. Warum das so ist, hat sich mir nicht erschlossen. Ein Grund könnte sein, dass die Industriemaschinen gefühlt mit 180 km/h los sausen, sobald man nur mit dem Fuß auf das Pedal tippt. Letzte Woche in Shaoxing war ich noch ständig damit beschäftigt, bei meiner Bernina Nähmaschine die maximale Geschwindigkeit hochzusetzen, weil sie immer wieder auf gefühltes Schritttempo gedrosselt wurde…

Am letzten Tag meines Aufenthalts in Changchun spazieren wir bei schönstem Wetter durch den ersten internationalen Skulpturen-Park. Höhepunkt ist eine Bronze des „Denkers“ von Rodin.

Am Nachmittag fliege ich zurück nach Shaoxing. Ich bin erledigt, voll mit neuen Eindrücken und bereit, am nächsten Tag nach Hause zu fliegen. Vorher gibt es noch ein Abschiedsessen. Sammi kommt mit ihrem Sohn, Hausmeister Jin bringt ebenfalls seinen Sohn mit, Chris ist extra aus Shanghai gekommen. Es ist ein richtig netter Abend. Familiär und lustig. Fast tut es mir leid, dass es jetzt wieder nach Hause geht. Aber nur fast.