Wenn man die Planung meiner Woche in Xi’an negativ beschreiben wollte, würde man folgende Bezeichnung wählen: unorganisiert. Wenn man es positiv betrachten wollte, würde man sagen: spontan. Es läuft beides auf’s gleiche hinaus. Ein Plan existiert anfangs nur in groben Umrissen. Als ich in der kulturellen Wiege Chinas ankomme, weiß ich, dass ich 5 Tage à 4 Stunden unterrichten soll. Und ich kann mir an zwei Fingern abzählen, dass ich irgendwann gebeten werde, einen Vortrag zu halten. Im Gegenzug soll ich die Terrakotta Armee besuchen können. Mehr Informationen habe ich nicht.
Ein bisschen wundere ich mich, dass ich trotz Nachfrage im Auto auf dem Weg zu Hotel auch nicht mehr Informationen bekomme. Ich denke mir, dass das ein kulturelles Ding sein könnte, dass ich zu schnell und zu direkt nachfrage. Also übe ich mich in Geduld. Später stellt sich heraus, dass weder meine Emily, Übersetzerin noch der Lehrer Han, dessen Klasse ich übernehmen soll, mehr wissen.
Also gut. Wir besichtigen also zunächst den Campus. An der Peihua Universität studieren 20.000 junge Leute. Von Textilkunst über Mediendesign bis hin zu Jura und Medizin wird hier alles angeboten. Die Universität hat ein eigenes Studia, das eine Mischung aus Kunstmuseum und Atelier zu sein schient. Hier hängen einerseits Kunstwerke, andererseits arbeiten hier auch Studenten an Webteppichen oder lernen Fresco Malerei.
Die Bücherei ist das Herzstück der Anlage. Hier ist auch das Museum zur Geschichte der Universität untergebracht. Ich werde von der Dekanin, der Parteisekretärin der Schule, diversen anderen Professorinnen und Professoren, Han und Emily auf einem Rundgang durch das Museum begleitet. Eine Führerin erklär uns alles. Eine der Professorinnen spricht sogar deutsch, und so bekomme ich teils eine deutsche, teils eine englische Übersetzung.
Am Anfang der Runde hatte ich noch die Befürchtung, dass dies jetzt eine zähe Angelegenheit werden könnte. Es stellte sich dann aber doch sehr interessant dar. Die Schule wurde vor 95 Jahren von zwei Privatpersonen gegründet. Es ging darum, junge Frauen in Weben und Färben zu unterrichten, um ihnen eine Lebensgrundlage zu geben. In den Wissen der beiden Kriege wurde die Schule mehrfach umorganisiert und ausgelagert. Nach den zweiten Weltkrieg hat man Finanzen als Fachrichtung aufgenommen, weil in China ein großer Bedarf an Buchhaltern bestand. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Fachrichtungen dazu. In den fünfziger Jahren hat man dann erstmals Männer an der Schule zugelassen. Bis heute gibt es einen „Frauenstudium“, in dem Teezeremonien, Handarbeitstechniken, Kindererziehung etc. unterrichtet werden. Mittlerweile hat die Schule den Status einer Universität.
Immerhin erfahre ich heute, dass ich morgen einen Vortrag halten soll. Meine Frage „Wann?“ bringt die kulturellen Unterschiede so richtig schon zum Vorschein. Die Antwort lautet: „Ist egal. Wann du möchtest.“ In meinem Kopf raufen sich die Fragezeichen um einen Stehplatz. „Das verstehe ich nicht so ganz. Ihr habt doch bestimmt einen Ablauf geplant, damit sich die Zuhörer darauf einstellen können. Wann passt euch denn der Vortag am besten in den Ablauf der Universitätsangehörigen?“ – „Ist egal. 8:00 oder 10:00 Uhr?“ – „Mir ist beides recht. Legt einfach eine Zeit fest, die für euch am besten ist.“ – „Ok. Dann sagen wir 9:00 Uhr?“
Ähnliches passiert mit den Unterrichtszeiten. Als ich gebeten wurde, einen Entwurf für den Kurs zu erstellen, wurde mir gesagt, dass ich vier Stunden am Tag unterrichten soll. Das ist normal, so mache ich das an der Universität in Ningbo auch. Am ersten Tag nach dem Vortag unterrichte ich also am Nachmittag von 14:00 bis 18:00. Es wird besprochen, dass ich an den kommenden Tagen jeweils zwei Stunden am Vormittag und zwei Stunden am Nachmittag unterrichten soll. Die Uhrzeiten kann ich wieder selbst wählen. Langsam finde ich das komisch. Die anderen Dozenten müssen doch auch ihre Zeiten planen und können sich nicht ausschließlich nach mir richten. Aber ich misch mich nicht da ein und lege meine Zeiten fest. Nach dem ersten Nachmittag, an dem ich vier Stunden unterrichte, weil am Vormittag der Vortag war, fährt Han Chris und mich in die Stadt, damit wir etwas Sightseeing machen können. Chris arbeitet für Bernina in Shanghai und betreut die Nähmaschinen, die im Kurs stehen. Auf der Fahrt erwähnt Han Chris gegenüber, dass ihm lieber wäre, ich würde acht Stunden am Tag unterrichten. Wenn ich nur vier Stunden da sei, wäre er die anderen vier Stunden mit der Gruppe alleine und könnte wohl möglich nicht alle Fragen beantworten. Das stimmt. Das fände ich an seiner Stelle auch nicht prickelnd. Nur: Warum kommt das so nebenbei auf einer Autofahrt raus, als der erste Tag bereits gelaufen ist? Egal. Ich stimme zu. Ab morgen unterrichte ich acht Stunden.
Dienstag kommt die emeritierte Professorin Frau Liu auf eine Stippvisite in meinen Kurs. Sie engagiert sich nach ihrer Pensionierung für die Peihua Universität, hat in Deutschland studiert und spricht fließend deutsch. Ich bin schwer beeindruckt. Wenn mein Chinesisch nur halb so gut wäre, wie ihr deutsch wäre ich schon begeistert… Sie lädt mich für Donnerstag zum Mittagessen in den VIP Bereich der Universitätskantine ein. Bei diesem Lunch erfahren Han, Emily, Frau Liu und ich, dass am Sonntag ein Patchwork-Symposium geplant ist, auf dem Frau Liu mich vorstellen und ich einen weiteren Vortrag halten soll. Zu diesem Symposium reist auch Mr. Yang aus Shaoxing an und mit Ihm ein weiterer Professor aus Hangzhou. Das ist also eine etwas größere Angelegenheit. Es wird immer interessanter.
Außerdem erfahre ich jetzt, dass ich Freitagnachmittag keinen Unterricht habe, weil die Student:innen eine andere Pflichtvorlesung haben. Also gut, dann nutze ich die Zeit, um Freitag in die Stadt zu fahren und mir die Stadtmauer anzuschauen.
Samstag kommen Han und Emily zu mir ins Hotel und holen mich ab, um mir vormittags das Archäologische Museum und nachmittags das Museum der Provinz Shaanxi zu zeigen. Xi’an war lange Zeit nicht nur die Hauptstadt Chinas, sie war auch Ausgangspunkt der Seidenstraße. Dementsprechend reich ist die Geschichte. Wer China auch nur andeutungsweise verstehen will, kommt um Xian nicht herum. Die Museen sind gute Startpunkte, um sich diesem Verständnis zu nähern.
Nach den Museen fährt Han uns in die Food Street. Hier gibt es neben Snacks wie gekochtes Ziegenblut oder „Biang-biang Nudeln (breite Nudeln, ähnlich den Lasagne-Nudeln, die Ihren namen von dem Geräusch haben, das sie machen, wenn sie auf die Tischplatte geklatscht werden) auch Unterhaltung aller Art. Zum Beispiel kann man Wein aus kleinen Tonschüsseln trinken und die Schüssel danach zu Trommelwirbel zerschlagen. Oder sich bei den diversen Instagram-tauglichen Fotohintergründen zum Affen machen. Wir schlendern etwa eine Stunde durch die Gässchen. Es ist richtig nett hier.
Plötzlich kommt ein Mann mit einer Schubkarre um die Ecke. Darin sind zwei Schüsseln mit einer Pampe, bei der mir echt anders wird. Das würde ich niemals freiwillig essen. Muss ich auch nicht – das ist Beton für die Baustelle. Ganz normaler Beton, alles gut. Wir lachen uns kringelig.
Sonntag also das Symposium. In dem Vortragssaal sitzen etwa 100 Leute an 10 runden Tischen. Der Präsident der Fakultät gibt eine Einführung, Frau Liu stellt mich vor, ich halte meinen Vortrag und dann gibt es eine Pause. In der Pause wird hauptsächlich fotografiert. Ich bekomme Geschenke von Leuten, die ich noch nie gesehen habe. Eine junge Dame bekommt schier Schnappatmung als ich sie frage, ob sie mit auf ein Bild möchte. Es folgen zwei weitere Vorträge und dann ist schon wieder vorbei. Es gibt ein ungezwungenes Mittagessen in der Kantine und jetzt erfahre ich, dass ich heute Nachmittag nochmal zwei Stunden Unterricht habe, die Student:innen sitzen bereits an den Nähmaschinen. Auch interessant. Ich stelle mir vor, wie das in Deutschland ausgehen würde. Das System hier fordert allen ein gewisses Maß an Flexibilität ab – Student:innen und Lehrkräften gleichermaßen. Aber es funktioniert.