Jin, der Hausmeister lauert. Er hofft auf eine Chance, einen Ausflug mit mir machen zu können. Mir steht echt nicht der Sinn danach, durch Shaoxing zu spazieren. Eine Akupunktur Behandlung gegen das Taubheitsgefühl in der linken Körperhälfte wäre mit 1000 x lieber. Er bespricht sich mit Sammi. Gut! Heute um 14:30 Uhr gehen wir zum Ärztehaus. Dort bekommt man auch Akupunktur.
Ich verbringe den Vormittag in meinem Studio und lasse die Menschenmengen, die sich aus irgendeinem Grund durch alle Winkel des Museums schlängelt, über mich ergehen. Es stürmt draußen. Zwischendrin regnet es. Ungemütlich. Es gibt Mittagessen und dann kommt Jin, um mich abzuholen.
Der Arzt hat heute seinen freien Tag. Es ist Samstag, daher verständlich, aber warum erfahren wir das erst jetzt? Ich dachte, wir hätten einen Termin? Wir sollen nach 18 Uhr wiederkommen. Ohne Termin. Dann wäre der Arzt wieder da. Ich hoffe ja für den Arzt, dass dann einfach nur jemand anders eine Schicht hat und nicht er an seinem freien Tag abends in die Praxis kommen muss. Sicher bin ich mir da nicht.
Auf dem Weg zurück ins Museum ist Jin bedröppelt. Er hatte so gerne etwas unternommen. Und wenn es nur die blöde Akupunktur gewesen wäre. Ich erkläre ihm nochmal, dass Shaoxing heute echt keine Alternative ist, aber ich habe letztens auf der Fahrt zum Medien-Schule in Shaoxing ganz in der Nähe einen Hügel mit dem Da Yu Ling Monument gesehen. Wenn wir dorthin fahren könnten, wäre das vielleicht eine Möglichkeit. Ich kann gar nicht so schnell gucken, wie er ein Taxi bestellt hat. Wir fahren an seinem Haus vorbei, er steigt kurz aus, um sich bessere Schuhe zu besorgen. Das hätte mich stutzig machen können. Hat es nicht.
Der Hügel befindet sich in einem riesigen Park. Die Ornamente wirken archaischer als sonst. Dies hier hat nichts mit den chinesischen Dynastien zu tun. Es ist ähnlich wie bei den Maya oder den Inka. Wenn die buddhistisch wären.
Vom Eingang aus fährt ein kleiner Bus los. Jin muss gegen seinen Willen Bus fahren. Er findet 50 Cent völlig überteuert. Total bescheuert. Die 3 km hätten wir locker laufen können.
Kennt ihr die Filme, wo Shrek mit seinem kleinen Esel durch die Gegend läuft? Der Esel hat supergute Laune, quatscht permanent und läuft ständig vor und zurück? Ich bin Shrek. Wenn mein Gefährte gerade nicht redet, singt er. Aber sobald jemand uns begegnet, hört er auf und beginnt eine lautstarke Unterhaltung. Mittlerweile muss ganz Shaoxing Bescheid wissen, dass er mit der Lehrerin aus Deutschland einen Ausflug macht. Die Statue steht auf der Spitze eines kleinen Hügels, der sich vielleicht 100 m über den Park erhebt. Eine Treppe führt uns dorthin. Es geht an einem Tempel vorbei durch einen Bambuswald und dann durch Laubwald. Und es ist anstrengend. Der Hügel ist bestimmt 500 m hoch. Jin bedauert, dass es heute so leer sei. Bergsteigen würde ja Spaß machen, aber nur wenn auch ordentlich viele Leute da wären, mit denen man reden könnte. Alleine mit Shrek unterwegs zu sein ist vermutlich nicht so dolle. Da muss er jetzt durch. Ich auch. Dieser 1000 m Hügel muss doch zu bezwingen sein. Irgendwann zeigt er mir eine Stufe, auf der 957 markiert ist. Ich frage, ob das insgesamt wäre oder nur bis hier, und wie viel des Wegs wir schon hätten. Das mit der Gesamtzahl geht vermutlich im Sprachgewirr unter. Was er aber sagt, ist dass wir jetzt etwas über die Hälfte hätten. „Ich krieg ne Krise!“ meldet sich das Kleinhirn. Seit der Sache im MRT hatte es sich erstaunlich ruhig verhalten. Dass hieße, der Hügel wäre 2000 m hoch. Andererseits kann es nicht mehr weit sein. Man sieht schon die Kuppe. Hoffentlich. Der Aufstieg auf den Kilimanjaro kann nicht schlimmer sein. Oben angekommen ist die Sicht ist ganz nett, aber wie gesagt, es ist so menschenleer, weil das Wetter nicht so berauschend ist. Auf dem Weg runter fängt es an zu tröpfeln. Ich habe eine Kapuze, daher stört mich das nicht weiter, aber eine Frau nimmt mich mit unter ihren Schirm, während ihre Begleiterin durch den Regen losrennt, um bei einem Parkwächter einen zweiten Schirm zu besorgen. Würde mir in Deutschland nicht passieren.
Wir streifen noch kurz durch einen Vogelpark, rufen dann wieder ein Taxi und fahren zurück.
Bevor wir einen zweiten Anlauf im Ärztehaus unternehmen, wollen wir essen gehen. Dieses Mal nicht im Nudelladen sondern im Fischrestaurant. Alles, was in der Theke liegt, sieht merkwürdig aus. Normalerweise erkenne ich mittlerweile in diesen Theken einiges, hier ist Fehlanzeige. Entweder sind das alles merkwürdig geformte Nudeln oder ich will gar nicht wissen, was das ist. Außer Flusskrebsen sagt mir hier nichts irgendwas. Also Flusskrebse. Da muss man mindestens 2 Pfund bestellen. Auch gut. Also 2 Pfund. Dazu frittierten Kürbis und gedünstete Auberginen. Jin bestellt einen Teller mit in Öl geschwenkten Erdnüssen. Ich sag: Das erste Mal, dass wir gemeinsam essen waren, hast du nur Erdnüsse gegessen. Das gibt’s heute nicht. Du musst was essen. Er meint, wir hätten genug. Haben wir auch. Nur ist er kein Fan von Flusskrebsen. Schnecken aus dem örtlichen Tümpel ja, aber Flusskrebse nein? Ich kapier es nicht. Er will aber partout nichts anderes, also esse ich 3/4 der Flusskrebse. Der Spaß kostet mich ca. 25 € für uns beide. Auch bezüglich der Frage, ob das günstig sei oder nicht, gehen unsere Ansichten weit auseinander.
Zurück in der Klinik ist ein junger Arzt da. Jin hat endlich wieder jemand zum Reden. Lautstark erklärt er allen Anwesenden mein Problem, hält dem Arzt sein Handy ins Gesicht, schaut ihm direkt über die Schulter, um mit in den PC schauen zu können und klopft ihm schließlich anerkennend auf die Schulter. In jeder deutschen Praxis säße jetzt der kleine Begleiter von Shrek auf dem Flur mit einem Pflaster auf dem Mund. Der junge Arzt lässt sich nicht irritieren. Er hört Jin zwar zu, ignoriert andererseits den Wirbel, den er verursacht. Nachdem er mein MRT Bilder nochmal durchgegangen ist, bestätigt er, dass er Akupunktur anwenden kann. Ich soll mir anschauen, wie eine andere Frau in der Kabine liegt und mich genauso hinlegen. Dann setzt er die Nadeln und schließt sie an einen ganz leichten elektronischen Impuls an. Ich muss ca. eine 3/4 Stunde so liegen. Zwischendrin kommt er immer wieder zur Kontrolle vorbei. Jin leistet mir immer mal 5 Minuten Gesellschaft und flitzt dann wieder los, um sich bessere Gesprächspartner zu suchen. Teilweise geht es im Besprechungsraum zu wie im Gasthaus beim 80. Geburtstag von Tante Anni, wenn sie Familie so richtig in Fahrt gekommen ist.
Zum Schluss bekomme ich noch warme Gläser auf den Rücken gesetzt und dann zum Abschied ein Rezept für entzündungshemmende Tabletten. Davon soll ich täglich eine nehmen. Die Apotheke hat allerdings geschlossen. Eine Notapotheke scheint es nicht zu geben, oder sie ist zu weit weg. Das ist doof, denn ich werde morgen um 7:30 am Hotel abgeholt, um nach Changchun zu fliegen. Die Apotheke am Flughafen würde das Medikament vermutlich nicht haben, meint Jin. Er ruft die Apothekerin an, sie vereinbaren, dass er die Tabletten um 7:00 bekommen könnte und sie mir dann ins Hotel bringt. Das ist eigentlich nicht nötig. Die Apotheke liegt direkt gegenüber vom Hotel. Ich kann das auch selbst machen. Kommt nicht in Frage. Jin ist in seinem Eifer, mir zu helfen, nicht zu bremsen. Reinhard Mey sagt in solchen Fällen: „Du bist ein Riese, Max! Großes Herz und großer Mund und nur zur Tarnung nach außen klein“. In China heißt Max Jin.
Ca. 1 Stunde später ruft mich Sammi an. Ihr Vater würde dieselben Tabletten nehmen. Sie würde mir die jetzt vorbeibringen und dann wäre das Problem erledigt. Es ist das zweite Mal, dass ich Sammi und ihren Söhnen diese Woche im Schlafanzug die Tür öffne. Sie begutachten die Blutergüsse auf meinem Rücken, die ich von der Behandlung mit den Unterdruckgläsern bekommen habe. Der jüngere Sohn lacht sich kaputt. Ich kann ihn verstehen.