Ich stelle immer wieder fest, dass die Chinesinnen viel Wert auf Kleidung legen und gerne Kombinationen oder Schnitte tragen, die ich als „mutig“ bezeichnen würde. Sie experimentieren gerne mit Formen und Farben, gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass ihnen eine „chinesische Note“, wie ein asymmetrischer Knebelverschluss, ein Stoffmuster mit Bambus oder chinesischen Landschaften und schlichte Schnitte wichtig sind als Referenz auf ihre patriotische Einstellung.
Wenn ich „Chinesinnen“ sage, meine ich „meine Chinesinnen“ – Zeit sie einmal kurz vorzustellen: In der Mitte ist Pang. Sie ist meine Ansprechpartnerin und unterrichtet an der Hochschule in Ningbo Patchwork. Maggie steht an meiner anderen Seite und unterrichtet Innendekoration anhand der 24 chinesischen Jahresthemen. Ganz links ist Fang – eine Freundin von Pang und Wu unterrichtet Handstickerei.
Bei der Planung dieser Reise hatte Pang angedeutet, dass sie von der Hochschule hin und wieder ein Auto und Fahrer zur Verfügung gestellt bekommen würde, um Recherche zu betreiben. Heute war so ein Tag, wir wollten Einkaufsmöglichkeiten für Seide erkunden.
In Ningbo sind die Möglichkeiten recht überschaubar, aber das 150 km entfernte Hangzhou hat einen sehr großen Seidenmarkt. Also auf nach Hangzhou.
Eigentlich hatte ich gedacht, dass sich meine Begleiterinnen hier auf vertrautem Terrain befinden würden, aber das habe ich wohl überschätzt. Sie kannten die Hauptstraße des Marktes, wo man fertige Seidenkleidung kaufen kann und dementsprechend hatten sie auch schon die Stoffhändler in den kleinen Quergassen gesehen. Aber so richtig vertraut waren sie mit der Sache nicht. Das wurde deutlich, als die ersten Verkäufer uns klar machten, dass sie ihre Stoffe eigentlich nur Ballenweise verkaufen und nur in Ausnahmefällen etwas vom Ballen abschneiden. Das ist natürlich für unsere Bedürfnisse echt Murks, weil beim Patchwork geht es ja genau darum, kleine Stoffstücke zu großen zusammenzusetzen. Wer braucht dann schon 20 Meter von einem Muster?
Wir ließen uns nicht beirren, haben Qualitäten und Preise verglichen und haben wirklich wunderschöne Drucke gefunden. Gekauft hatten wir aber noch nichts. Die Stimmung war fröhlich, wir ließen uns einfach treiben. Das änderte sich schlagmals, als ich einen Stoffballen entdeckte, bei dem der Ansatz der Druckmaschine deutlich erkennbar war. Er hatte über 30 cm hinweg Farbspritzer am Rand und war in diesem Bereich alles andere als perfekt. Diesen kleinen Abschnitt wollte ich haben. Die Verkäuferin wollte aber ihren Ballen nicht anschneiden. Außerdem fand sie es bekloppt, dass wir (also eigentlich ich) ausgerechnet den Fehler haben wollten. Pang ließ nicht locker. Sie verstand zwar auch nicht, warum ich ausgerechnet die Fehlstelle haben wollte, aber jetzt war sie auf einer Mission: Stoffenden für ihren mundtoten Schützling ergattern. Sie verhandelte vehement. Schließlich bekam sie bei einem Händler zwei Abschnitte. Daraufhin knickte der Kollege nebenan auch ein und schenkte uns sogar drei weitere. Dann zogen sie aus einer Ecke einen Reststoff hervor, der zwar sauber war, aber durch den sich wohl eine Ratte mal durchgefressen hatte. Sie wollten 480 RMB für die 6 Meter haben. Das entspricht 60 Euro und war mir zu viel für ein angefressenes Stück.
Aber damit war auch klar: Alle Händler haben unter ihren Verkaufstischen eine Restekiste. Und damit war die Jagd eröffnet.
Wir liefen kreuz und quer durch die Händler-Gassen und suchten überall nach den Restekisten, bis es anfing zu nieseln. Das war jetzt die ideale Zeit für eine Mittagspause. Beim Essen habe ich Pang und Maggie erzählt, dass diese Art des Einkaufens im Englischen so schön als „Underground Shopping“ bezeichnet wird. Und dass ich mit meiner Serie „Peinliche Mütter“ ja nicht die perfekten Mütter darstelle, sondern genau das nicht-so-perfekte aufzeigen will. Dazu brauche ich aber keine makellosen Stoffe.
Und nach dem Essen ist es dann passiert: Wir waren bei einem Händler fündig geworden: Er hatte gleich 3 Stoffe mit Färbefehlern in seiner Restekiste. Fang und Wu stürzten sich darauf und gingen damit sofort zur Kasse, weil sie jetzt anscheinend auch auf der Suche nach Färbefehlern waren. Ich blickte noch leicht irritiert, als Pang mit wuscheligen Haaren aus der Restekiste auftauchte, triumphierend den nächsten Fund hochhielt und begeistert rief „Underground shopping!“ Damit war jeder Ansatz von gediegener Recherche-Reise vom Vormittag restlos im Eimer. Und der Blickwinkel meiner Begleiterinnen auf ihre Stoffauswahl in nächster Zukunft wohl entscheidend verändert.