Von dem schlechten Wetter in Ningbo konnte man nur noch einen Rest erahnen, als wir am kommenden Tag in Hangzhou ankamen. Der Westsee war grau aber immerhin trocken und nur wenig besucht. Der Westsee gehört zu den Top-Attraktionen von China. Die meisten Städte haben Seen, die in einem ähnlichen Stil angelegt sind, aber der Westsee gilt quasi als die perle unter den Seen und ist damit Vorlage für die anderen Gewässer.
Ein echter chinesischer See, der als Erholungsgebiet gedacht ist, ist relativ rund und hat 2-3 Inseln. Auf keinen Fall vier, weil das eine Unglückszahl ist und fünf ist schon wieder zu viel. Und auf jeden Fall benötigt man an so einem See Dämme, die quer über den See führen und manchmal auch die Inseln mit dem Ufer verbinden. Man kann also um den See herumgehen oder über die Dämme spazieren. An manchen stellen führen diese Dämme über Brücken, so dass die Boote ungehindert von einem Teil des Sees in den anderen gelangen können. Die Boote sind meistens Ausflugsboote oder kleinere Ruderboote, die von einem E-Motor unterstützt werden. Das Seeufer und die Inseln sind gespickt mit Tempeln, Pagoden, Statuen, lauschigen Bänken, die alle im traditionellen Stil gehalten sind und attraktive Fotomotive bieten. Dazwischen blühen je nach Jahreszeit Kirschen, Pflaumen, Kuckusblüten, Azaleen, Magnolien, Lilien und im Wasser wachsen Seerosen und Lotus. Der Lotus blüht erst im Hochsommer, in Nanjing hatten wir die ersten Blüten gesehen, aber hier am Westsee waren sie noch nicht so weit. Diese Seen sind in der Regel nicht zum Schwimmen gedacht, und so bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich in der sengenden Hitze hier entlangspazieren möchte, um die Lotusblüte zu sehen. Andererseits: doch. Würde ich machen. Es wäre halt kein so großes Vergnügen. Und daher bin ich heute froh, dass es nicht so heiß ist.
Am süd-östlichen Ufer des Westsees liegt die Leifeng Pagode. Angeblich ist unter daer Pagode eine Frau beerdigt, die eigentlich eine Schlange ist und eine innige Liebesgeschichte mit einem Mann aus der Umgebung verband. Vielleicht wurden deswegen den Backsteinen, die zum Bau der Pagode verwendet wurden, heilende Kräfte zugesprochen. Sie wurden daher gestohlen und zu Pulver gemahlen, dass Krankheiten und Fehlgeburten abwenden sollte. 1924 stürzte die Pagode zusammen. 2002 wurde sie wiederaufgebaut. Allerdings steht sie heute auf Stahlträgern, die das ehemalige Fundament und die Ruine der ursprünglichen Pagode überspannen. Eine Rolltreppe führt den Hügel zur Pagode hinauf und innerhalb des Gebäudes kann man mit einem Aufzug zur höchsten Terrasse gelangen. Allerdings lohnt es sich, zu Fuß hinaufzusteigen, weil man auf kunstvoll geschnitzten Holzreliefen die Liebesgeschichte der Schlangen-Dame bewundern kann. Die Aussicht von der Pagode ist einmalig – man sieht nicht nur Hangzhou in der Fermen, sondern auch die Inseln des Westsees, vor denen drei Stelen im Wasser stehen. Die Stehlen sind oben durchbrochen wie eine Art Laterne. Darin werden nachts Lichter angezündet, die dann den See erleuchten. Der Anblick ist so idyllisch, dass er als Motiv für die 1-Yuan Geldnote gewählt wurde.
Heute können wir nicht sehr lange bleiben. Wir sind verabredet mit mehreren Professor:innen, die in Hangzhou unterrichten und mich um ein Treffen gebeten hatten, um zu besprechen, wie unsere Zusammenarbeit in den kommenden Jahren aussehen könnte. Das Treffen dauert länger als erwartet. Meine Tochter ist anfangs dabei, allerdings wird es ihr dann doch irgendwann zu langweilig. Ich kann es ihr nicht verdenken. Die Professor:innen haben eine junge Studentin dabei, von der kein Mensch weiß, was sie bei dieser Besprechung soll. Sie krümmt sich ebenfalls vor Langeweile. Die beiden schließen sich zusammen und ziehen los, um einen nahegelegenen Supermarkt zu erkunden.
Egal, wie viele Sehenswürdigkeiten und Orte von historischer Bedeutung man auf so einer Reise sieht, ein Supermarkt ist immer einen Ausflug wert. Hier in China werden Reis, Erbsen, Sonnenblumenkerne, tiefgefrorener Mais, geröstet dicke Bohnen und getrocknete Litschis in großen Schütten zum Verkauf angeboten. Man findet Aqua-Behälter mit lebendigen fisch, Fröschen, Schlangen, Schildkröten und Krabben. Was man nicht findet, sind Tampons. Wenn man den gesamten Supermarkt kennenlernen möchte, empfehle ich, sich auf die Suche nach Nassrasierern zu begeben. Man kommt auf die abstrusesten Ideen, wo man noch nachschauen könnte, wenn man sie bei den Hygieneartikeln nicht findet. Kleiner Tipp: Die sind an der Kasse am Ausgang in Vitrinen eingesperrt. Warum, ist nicht überliefert. Zwischen den Reihen sind Megaphone montiert, die in ohrenbetäubenden Endlosschleifen auf Angebote und die bevorstehenden Feiertage hinweisen. Das Obst muss, auch wenn es schon vorher abgepackt war, an einer eigenen Theke von Mitarbeiter:innen abgewogen werden. Die Tüte wird anschließend mit einer Metallklammer versiegelt. Das Obst ist allerdings immer sehr frisch und wunderbar gereift. Das ist an und für sich eine gute Nachricht, außer in der Saison für Durian. Der Geruch schlägt einem unweigerlich schon beim Betreten des Supermarkts entgegen. In der Abteilung für Süßigkeiten findet man alles einzeln verpackt, über Kekse, 5-Gramm-Schälchen mit Wackelpudding bis hin zu 3 cm langen Miniwürstchen und gedünsteten Hühnerkrallen. Es ist ein Spektakel für alle Sinne. Wenn man wieder rauskommt, fühlt man sich. Als sei man von einem Laster getroffen worden.
Nach der Besprechung bzw. dem Supermarkt bleibt kaum noch Zeit, um etwas zu Abend zu essen, ehe unser Zug nach Shaoxing abfährt. Und damit sind wir am Ende unserer kleinen Reise angekommen. Es war abwechslungsreich, wir haben viel gesehen und erlebt, aber jetzt sind wir auch froh, dass wir in Shaoxing noch zwei Tage ausruhen können, ehe wir die Heimreise antreten.