China

Barbara Lange

Ein Wochenende am Meer

22.04.2024

Die Wettervorhersage für das bevorstehende Wochenende verspricht, dass es ab Samstagmittag schütten soll. Das ist doof. Pang hat sich viel Mühe gegeben und hat für dieses Wochenende einen Ausflug für uns beide geplant. Wir überlegen kurz, ob wir den Ausflug um eine Woche verschieben, aber das ist ungünstig, weil an dem Sonntag mal wieder gearbeitet werden muss. Der Tag der Arbeit wird hier an fünf Tage lang gefeiert und ein Tag muss reingeholt werden, indem Sonntag gearbeitet wird. Also beschließen wir, dass es schon nicht so schlimm werden wird und fahren los.

Unsere erste Station führt uns zu einem ehemaligen Klassenkameraden von Pang. Nach der Mittelschule hat er beschlossen, dass er Schnitzer werden möchte und ist bei drei verschiedenen Meistern in die Lehre gegangen. Pang hatte mir zwar Bilder von seinen Arbeiten gezeigt, aber was mich in seinem Atelier erwartet, haut mich um. Ich hatte gedacht, dass er Stücke bearbeitet, die ca. 30 cm groß sind und in einem Art Verkaufsraum angeboten werden. Nee. Ganz anders. Mister Wang hat eine Gruppe von mindestens sieben kleinen Gebäuden zu einer Art Museumsdorf umgebaut, wo er seine Skulpturen ausstellt. Die Arbeiten sind ungefähr 1 m groß. Die Details sind unfassbar filigran ausgearbeitet. Die Gebäude hat er teilweise selbst saniert, teilweise selber gebaut. Sein Atelier wird von der Regierung unterstützt, im Gegenzug bietet er Kurse für Schulklassen an. Außerdem fertigt er Gastgeschenke an, die an Staatsgäste verschenkt werden. Ich frage bei zwei verschiedenen Werken, was die wohl kosten würden. Jedes Stück liegt ungefähr bei 3000 €, wobei er überhaupt nicht scharf drauf ist, seine Arbeiten überhaupt zu verkaufen. Man merkt ihm an, wie viel Herzblut in jedem Stück steckt und er tut sich schwer, sich von den fertigen Arbeiten zu trennen. Er selbst macht einen absolut bodenständigen Eindruck. Er wirkt wie ein ganz regulärer chinesischer Bauer, der sein Gemüse und sein Bambus selber anpflanzt. Das tut er ja auch, aber wenn ihn die Inspiration packt, dann fertigt er eben ganz andere Dinge an. Wenn wir das schon mal da sind, lädt er uns auch gleich zum Mittagessen ein, und weil wir schon mal in der Nähe sind, gesellt sich eine zweite Klassenkameradin von Pang mit dazu.

Diese zweite Klassenkameradin ist mittlerweile stellvertretende Bürgermeisterin von der Gemeinde, in der Pang zur Schule gegangen ist. Sie begleitet uns auf unserer Fahrt weiter Richtung Süden, wo wir die Küstenstraße am Meer entlang nehmen. Das Wetter hat beschlossen, dass es heute doch nicht regnen wird und so genießen wir einen halbwegs sonnigen Tag und machen immer wieder Halt an Buchten, die von großen, weißen Sandstränden gezeichnet sind. Kinder buddeln Sandburgen, die Eltern trinken Kaffee und gefühlt findet alle zehn Meter eine Hochzeit statt, weil heute laut chinesischem Kalender ein besonders guter Tag für Eheschließungen ist. In den Dörfern und an den Stränden geht am helllichten Tag immer mal wieder ein Feuerwerk hoch. Also immer dann, wenn der Bräutigam bei der Hochzeitsgesellschaft eingetroffen ist. Warum man sowas tagsüber abbrennt ist mir absolut rätselhaft. Aber gut. Vielleicht ist es ja auch gar nicht unpraktisch, dass der Bräutigam bei Tageslicht ankommt…

In einer Bucht kommen wir an einer Fischereianlage vorbei, wo ein Netz an zwei Stangen montiert ist, die im Wasser liegen. Ca. alle 5 Minuten wird das Netz hochgezogen in der Hoffnung, dass ein Fisch darauf liegt. Beim ersten Mal war auch ein Fisch in dem Netz drin, bei den weiteren Hebeversuchen, die ich filmen konnte, waren die Netze allerdings immer leer. Dieser Küstenabschnitt an der Ostseite der Halbinsel von Xianshan gilt als einer der schönsten im Bundesstaat Zhejiang. Hier findet man auch die Regattastrecken und die Anlage für Beach-Volleyball, die für die Asian Games von 2023 gebaut wurden. (Die Asian Games sind quasi eine Olympiade für die asiatischen Länder – genau wie für Olympia werden extra für diese Sportwettkämpfe gigantische Stadien gebaut.)

Am Abend kommen wir in einer kleinen Hafenstadt an, wo Pang ein Hotelzimmer in einem Hotel reserviert hat, das wieder einem ehemaligen Klassenkameraden von ihr gehört. Das Hotel hat – sagen  wir mal – seinen eigenen Charme. Der Inhaber sitzt neben der Rezeption an einem kleinen Tischchen mitten in der Lobby und schlürft seine Suppe. Daneben stehen zwei Roller auf dem Marmorboden. An den Frühstückstischen stehen hohe Bänke. Auf einer schläft ein Mann. Auf den Tischen stehen große Vasen, die mit Wasser gefüllt sind. In einer schwimmt eine Zigarettenkippe. Die Tapete löst sich an allen Ecken und Enden. Es ist nicht zu übersehen, dass das Hotel seine besten Jahre hinter sich hat. Pang ist etwas peinlich berührt, aber ich finde es eigentlich ganz witzig, China völlig unverfälscht kennenzulernen.

Immerhin hat das Hotel den Vorteil, dass es in der Nähe der Altstadt liegt, in der abends eine Lichtershow geboten wird. Wir gehen erst zum Essen und anschließend zu der Veranstaltung. Jetzt fängt es allerdings doch an zu regnen. Und vielleicht ist dies der Grund, dass  wir etwas merkwürdige Plätze haben. Alle Zuschauer stehen seitlich auf der offenen Besucherplattform, die Schauspieler spielen aber nach vorne, wo kein einziger Zuschauer ist. In dem Stück wird die Geschichte erzählt, wie die Fischer der Umgebung vor genau zwei Jahren einen Pottwal gerettet haben, der auf einen Strand getrieben worden war. Die Rettungsaktion dauerte 20 Stunden, während derer die Fischer sich darum bemüht haben, den Wal konstant feucht zu halten. Wenn mir Pang den Inhalt nicht erzählt hätte, wäre ich im Leben nicht darauf gekommen. Die Inszenierung war schon sehr abstrakt. Oder ich bin einfach nur zu doof dafür. Bunt war sie auf alle Fälle. Und laut. 

Nach der Vorstellung schlendern wir weiter durch das Dörfchen. An einer Stelle kommen wir an einem Obstgeschäft vorbei, in dem vier Frauen an einem Tisch sitzen und Mahjong spielen. Ich habe solche Gruppen schon öfter gesehen und wollte immer schon mal gerne etwas dabei zuschauen, war mir aber nie sicher, ob es sich dabei um legales oder illegales Glücksspiel handelt und wie offen man gegenüber Zuschauern wäre. Pang kennt da ja nichts. Ehe ich mich versehe, sitze ich auf einem Hocker bei den vier Frauen und sehe ihnen beim Spielen zu. Noch mal zwei Minuten später, hat man mir eine Mandarine in die Hand gedrückt. Die Frauen spielen mit einer Routine und einer Geschwindigkeit, die wahrscheinlich nur leise erahnen lässt, wie viele Stunden sie schon in dieses Spiel investiert haben. Neben ihnen läuft ein kleines Kind herum, die Mutter gibt ihm ihr Handy, um es ruhig zu stellen, macht nebenher Süßigkeiten für das Kind auf, alles ohne den Blick von den Spielsteinen zu nehmen. Das Spiel ist innerhalb von drei bis vier Minuten vorbei, dann werden die Spielsteine in die runde Öffnung in der Mitte des Tisches geworfen und 30 Sekunden später erscheinen sie wieder fein säuberlich aufgereiht in den Schlitzen, die sich in der Tischplatte öffnen. Ich bin total fasziniert. Sowohl von dem Spiel, als auch von dem Tisch als auch von der Gastfreundschaft, mit der ich aufgenommen werde. Zum Abschied wollen Sie wissen, welchen Eindruck von China ich hätte. Ich gebe wie immer zu Protokoll, dass ich die Menschen sehr freundlich finde und das Essen mir sehr gut schmecken würde. Darüber freuen sich immer alle und wir gehen wieder unsere Wege.

An der Strandpromenade angekommen, ist eine Karaoke-Anlage nicht zu überhören. Pang ist elektrisiert. Es ist ganz klar: Pang will singen. Es ist genauso klar: Barbara will nicht singen. Pang gewinnt. Die Karaoke-Anlage steht an einer überdachten Picknickfläche, ringsherum haben sich sechs oder sieben Männer versammelt, jeder mit einem Bier in der Hand. Sie freuen sich ein Loch in den Bauch, als Pang ein Lied singt. Als ich singe, ist die Freude schon nicht mehr ganz so groß. Und ich muss leider zugestehen: zu Recht. Was ich davon mir gebe, grenzt an Körperverletzung. Trotzdem bekommen wir beide ein Bier in die Hand gedrückt und sind jetzt die besten Freunde der Karaoke Fans. Ein Glück, dass es mittlerweile ringsherum schüttet. Damit bleibt die Zuschaueranzahl begrenzt. Wir singen noch zwei weitere Lieder, bekommen geröstete Sonnenblumenkerne geschenkt und gehen dann gackernd zurück zum Hotel.

Beim Frühstück am nächsten Morgen bestätigt sich mein Verdacht, was die Klasse des Hotels betrifft. Wir sitzen direkt neben der Küche, immerhin bekomme ich noch einen Stuhl, Pang sitzt auf einem Plastikhocker. Wir essen eine Art Porridge, dazu diverses in Essig eingelegtes Gemüse, jeder bekommt ein hartes Ei und ich als Ausländerin einen Tetrapak mit Hafermilch. Irgendwie ist das hier so drin, dass Europäer immer Milch haben möchten. Ein Kaffee wäre mir lieber, in den ich die Milch noch mit hineinschütten kann. Kaffee gibt es keinen. Noch nicht einmal Tee.
Als wir aus dem Hotel auschecken, ist draußen wieder ein Feuerwerk zu hören. Ich flitze los, um dieses Mal ein Foto davon zu machen. Allerdings handelt es sich nicht nur um ein Feuerwerk, dieses Mal ist eine kleine Prozession dabei, die von traditioneller Musik begleitet wird. Das heißt am Anfang und am Ende der Prozession laufen Männer, die mit Stöcken auf kleine Gongs draufschlagen. In der Mitte der Prozession tragen ein paar Leute runde Papierornamente, die fast aussehen als, als hätte ein Pfau ein Rad geschlagen. Als allerdings ein Mann vorbeikommt, der ein Foto mit einer schwarzen Binde hochhält und hinter ihm ein Mann mit feierlichem Gesicht eine Kiste trägt, dämmert es mir, dass es sich hier wahrscheinlich nicht um eine Hochzeit, sondern um eine Trauerfeier handelt. Es ist mir direkt peinlich, dass ich fotografiert habe.

Unsere Fahrt führt uns als erstes zu einer kleinen Insel, auf der das führende Fischerei-Städtchen der Region angesiedelt ist. Eine Unzahl von Fischtrawlern hat am Quai festgemacht. Die Schiffe werden mittels großer Förderbänder mit Eis beladen. Das Eis wird benötigt, um den Fang frisch zu halten. Wir laufen am Quai entlang und Fotografieren. Dabei erzähle ich Pang, dass ich mit meinem Vater der HMS Victory fertiggestellt habe. Daraufhin fragt Pang, ob ich Lust hätte, die örtliche Werft zu besichtigen. Noch wieder ein anderer ehemaliger Klassenkamerad von ihr wäre der Leiter der örtlichen Werft. Pang hat eine Unzahl von ehemaligen Klassenkameraden und offensichtlich haben alle Karriere gemacht. Auch ihr Ehemann ist ein ehemaliger Klassenkamerad. Obwohl sie und ihr Mann seit Jahren in Ningbo wohnen, unterhalten sie immer noch sehr enge Kontakte zu dieser ehemaligen Clique. Der Leiter der Werft bietet uns an, dass wir ab 3 Uhr vorbeikommen könnten. Vorher wollen wir noch zu einer anderen Insel fahren. Der Regen hat sich vollständig verzogen. Mittlerweile kommt sogar die Sonne zaghaft raus. Wir holen wieder die stellvertretende Bürgermeisterin ab und fahren gemeinsam weiter Richtung Süden, wo wir dann irgendwann auf eine Fähre kommen, um zur Insel Hua’ao überzusetzten. Auf dieser Insel sind Basaltformationen zu sehen. Auf der Fahrt dorthin kommt man erst an eine Anlage vorbei, wo aus Meereswasser Salz gewonnen wird.

Die Kletterpartie zu den Steinen ist nicht ganz ohne, aber der Blick entschädigt für alles. Hier findet man mehr dazu.
Der Vergleich mit dem Giant’s Causeway in Irland drängt sich förmlich auf. Mit dem Unterschied, dass wir hier fast alleine sind. Außer uns sind vielleicht zehn Leute hier. Wir können völlig ungestört über die Steine balancieren, Fotos machen und die Szenerie genießen. Außerdem tummeln sich hier kleine Viecher, wo ich mir nicht sicher bin, ob es sich dabei um Insekten oder um Krebstiere handelt. Sie laufen haufenweise über die Steine, laufen aber genauso in die Pfützen hinein und auf der anderen Seite wieder heraus. Die stellvertretende Bürgermeisterin sammelt derweil Meeresschnecken. Die nehmen wir auf dem Rückweg mit in ein Restaurant, wo wir die Küche bitten, diesen Fang für uns mitzukochen.

Daneben gibt es einen Fisch der an Lachs erinnert, dessen Fleisch aber wesentlich fester und außerdem grau ist. Zusätzlich ein Meerestier, dass mir als Conch vorgestellt wird. Die Conch schmeckt so, wie ein Klostein riecht. Nicht mein Fall. Da halte ich mich lieber an den Fisch und an die anderen Muscheln. Ich esse sogar die kleinen Schnecken von der Bürgermeisterin noch eher, als dass ich die Conche anfasse. Nach dem Mittagessen machen Pang und die Bürgermeisterin einen Mittagsschlaf auf einem Sofa in dem Restaurant. Auch die Restaurant Inhaberin kennt Pang von irgendwoher, nur handelt es sich dieses Mal nicht um eine ehemalige Klassenkameradin, man möchte es ja kaum für möglich halten 😉. Während die beiden schlafen, erkunde ich die Umgebung so ein bisschen. Hinter dem Restaurant befindet sich ein altes, zerfallenes Bauernhaus. Als ich hineinschaue, fliegt ein Vogel aufgeregt mehrfach über meinen Kopf hinweg aus dem Haus heraus und wieder hinein. Ich will ihn nicht mehr als nötig aufregen, also gehe ich als nächstes zu dem Bambuswald hinter dem Haus. Auf dem Weg dorthin entdecke ich einen Tausendfüßler. Ich finde den Tausendfüßler toll. Als ich später Pang ein Foto davon zeige, macht sie einen Satz und wirft die Arme in die Luft und kreischt. Interessant. Und ich hatte gedacht, ich hätte auch mal eine Delikatesse gefunden. Offensichtlich nicht. 

Am Ende des Tages besinnt sich das Wetter doch noch auf den Wetterbericht und es fängt an. Leicht zu regnen. Der Chef der Werft wird es hoffentlich überleben, dass wir nicht vorbeikommen, sondern direkt nach Ningbo zurückfahren. Aber man muss auch etwas haben, worauf man sich beim nächsten Mal freut.