„Warum tust du dir das eigentlich an?“ – Diese Frage ploppt in meinem Kleinhirn in den vergangenen Tagen regelmäßig auf. Die rechte Hirnhälfte weiß darauf zu antworten: Weil China immer noch ein Abenteuer ist. Weil ich meinen Freunden dort versprochen habe, ich würde dieses Jahr wiederkommen und unser Projekt zu Ende führen. Und weil es den Horizont erweitert. Die linke Hirnhälfte hingegen argumentiert, dass es aber auch anstrengend ist und in meinem Leben eigentlich auch so genügend los wäre. Damit hat sie nicht ganz unrecht. Aber sie wurde von der rechten Hirnhälfte überstimmt und so sitzen wir wieder in Shaoxing. Das Kleinhirn, die beiden Hirnhälften und ich.
Der Vorteil von dieser Reise gegenüber der vom vergangenen Jahr ist: Ich weiß was auf mich zukommt. Der Nachteil ist: Ich weiß wirklich, was auf mich zukommt
Immerhin – Sammi steht pünktlich am Ankunfts-Gate, um mich in Empfang zu nehmen. Sie hat einen Blumenstrauß im Arm und freut sich sichtlich, dass ich wieder da bin. Nachdem mein chinesisches Handy bei der letzten Reise von einem Auto überfahren wurde, hat sie ein altes i-Phone für mich besorgt. WeChat ist eingerichtet, auf Weixin Pay sind 1000 Yuan hinterlegt und Internet funktioniert auch schon. Und damit ploppen auch gefühlt in 3 Sekunden Takt irgendwelche mega-wichtigen Benachrichtigungen auf chinesisch bei mir auf. Das gewöhnlich dem Handy als erstes ab. Jetzt ist es stumm und perfekt.
In meinem Hotel wartet bereits das gleiche Zimmer auf mich, das ich im vergangenen Jahr immer hatte. Ich vermute, dass sie dieses Zimmer seit meinem letzten Aufenthalt gezielt rauchfrei halten. Letztes Jahr waren wir kaum 3 Schritte im ersten Zimmer drin, da schrie das Kleinhirn auch schon in den höchsten Tönen, dass es hier auf gar keinen Fall übernachten würde. Die Damen an der Rezeption fanden den Wunsch nach einem rauchfreien Zimmer etwas skurril, aber immerhin habe ich eins bekommen. Anscheinend wurde es bis heute nicht wieder an Raucher vermietet. Noch andere Rezeption bitte ich Sammi, mit den Damen abzuklären, dass sie die Anmeldung so gründlich machen, dass die Polizei nicht wieder bei mir am Zimmer klopfen muss. Sammi klärt das mit den Rezeptionistinnen und erklärt mir dann freudestrahlend: „Die Polizei kann ja vorher anrufen, wenn sie kommen möchte.“ Ich: „Aber nicht bei mir. Ich kann mich mit denen ja gar nicht unterhalten.“ – Das sah die Polizei offensichtlich ähnlich, auf jeden Fall haben sie sich nicht bei mir gemeldet.
Das heißt allerdings nicht, dass ich in der ersten Nacht vernünftig schlafen konnte. Der Jetlag hat mich grausam in Griff. Am nächsten Morgen trabe ich daher ziemlich übermüdet ins Museum und begrüße erst mal Mister Yang und Sammi.
Mister Yang hatte sich gewünscht, dass ich dem Museum einen Quilt, den ich im vergangenen Jahr in China angefangen habe, dem Museum überlasse. Von den drei Quilts sind zwei in Ausstellungen angenommen worden, daher kommt nur einer in Frage. Und bei dem habe ich ein bisschen Bedenken, weil ich auf diesen Quilt einen Winni-der-Puh drauf gemalt habe. Winni-der-Puh hat sich in den vergangenen Jahren in China als Sinnbild für eine kritische Haltung gegenüber dem herrschenden politischen System etabliert. Mister Yang scheint es nicht zu stören, er lacht, als er den Bären sieht.
Mein Studio wartet blitzblank geputzt auf mich. Mittlerweile haben sie sogar eine Designwand installiert. Und auch dieses Mal steht mir eine brandneue Bernina Nähmaschine zur Verfügung.
Ich weiß, wo ich die Toilette finde, wo ich heißes Wasser für Tee bekomme und wie das Bügeleisen funktioniert. Ich weiß auch, wo das Stofflager ist. Kann also losgehen. Eine Idee habe ich auch schon im Kopf. Bevor es jedoch losgehen kann, stürmen die Damen aus dem benachbarte Atelier zu mir rüber und bitten mich, ihnen eine Einweisung in die Bernina Nähmaschine zu geben. Sie hatten schon ein bisschen herumprobiert, aber ohne chinesisches Handbuch waren sie nicht recht weit gekommen. Als ich die Maschine eingeschaltet habe, war sofort offensichtlich, dass die Grundeinstellungen völlig verstellt worden waren. Das war der Maschine selbst auch klar. Daher weigerte sie sich mittlerweile, auch nur einen einzigen Stich zu machen, wenn man aufs Pedal drückte. Ich hab die Maschine also erstmal wieder neu eingerichtet und dann ein bisschen demonstriert. Sie schnurrte einerseits wie ein Kätzchen, allerdings stimmte das Stichbild nicht so ganz genau und der Oberfaden riss immer wieder, was ich allerdings auf den Faden zurückführte. Auf den Gedankengang werden wir später noch mal zurückkommen. Nachdem wir mit Dreifach-Nadel und diversen Zierstichen etwas herumgespielt hatten, waren die Damen zufrieden und gingen wieder rüber ihr Atelier.
Kommende Woche werde ich wieder bei Pang in Ningbo unterrichten. Sie hatte sich gewünscht, dass wir Mustern nehmen, die eine Herausforderung für Fortgeschrittene darstellen würden. Können wir gerne machen. Zeichnungen hatte ich angefertigt, nur war ich noch nicht dazugekommen, die Kursmuster zu nähen. Das möchte ich vor der Fahrt nach Ningbo erledigen. Also suche ich im Stofflager ein paar geeignete Stoffe, fang an, Streifen zuzuschneiden und überlege mir eine geschickte Nährreihenfolge für meinen Muster. In diesem Fall kommt es auf exaktes Nähen an. Jeder Millimeter zählt. Auch darauf kommen wir später nochmal zu sprechen.
Etwas, was ich seit letztem Jahr auch nicht geändert hat, ist, dass es in meinem Studio schlichtweg einfach nur kalt ist. Dieses Mal war ich zwar schon schlauer und hatte mir extra warme Klamotten eingepackt. Und im Gegensatz zu vergangenem Jahr schien heute sogar die Sonne. Aber so richtig kuschelig war es trotzdem nicht, im Anorak vor der Nähmaschine zu sitzen. Chen aus dem Nachbaratelier bring mir eine Wärmflasche. Das ist mir auch noch nicht passiert. Trotzdem war es ungemütlich. Der Jetlag ließ auch noch grüßen und so habe ich mich bei den ersten Blöcken angestellt, als ob ich noch niemals eine Nähmaschine bedient hätte. Aber so langsam bekam ich in Schwung. Der dritte Block flutschte nur noch so. Bis es auf einmal einen Schlag tat und die Maschine blockierte. Kein Problem, Unterfaden raus, Fadennest entfernen, ein bisschen putzen, bisschen ölen… es tat sich nichts. Die Maschine stand. Irgendwann fand ich Im Greifer ein kleines Metallstückchen, von dem ich mir sicher war, dass es dort nicht hingehörte. Als ich versuchte, es mit einer Pinzette zu greifen, verschwand es tiefer in die Maschine. Offensichtlich war nicht die Qualität des Fadens das Problem gewesen. Vermutlich hat zu irgendeinem Zeitpunkt das Problem vor der Maschine gesessen. Wie dem auch sei, Ende vom Lied war, dass Sammi mit dem Händler in Shanghai telefoniert hat, und anschließend unser bekannter Hausmeister Jin die Maschine wieder in ihren Original-Karton verpackt hat und sie noch am selben Abend zum Kurier Richtung Werkstatt gebracht wurde.
Also ging ich auf die Suche nach einer Ersatzmaschine. Chen zeigte auf eine Maschine und sagte 不好 (bu hao). So viel chinesisch verstehe ich, um zu wissen, dass das „nicht gut“ heißt. Die einzige freie Maschine, die 好 (hao) war, war eine kleine Maschine, wie man sie bei uns für 80,– € beim Discounter bekommen kann. Das ist nicht weiter ehrenrührig, aber diese Maschinen neigen dazu, sich selbst auszufädeln, wenn man beim Start nicht genau aufpasst, in welcher Stellung sich das Handrad befindet. Das bin ich nicht gewohnt, daher habe ich gefüllt alle 2 Minuten wieder neu eingefädelt. Außerdem hat diese Nähmaschine ein Füßenbreite von 0,75 Zentimetern. Bei meinem Projekt hatte ich aber meine Nahzugabe auf die andere Maschine abgestimmt und alles genau mit einem Zentimeter berechnet. Also sitze ich jetzt bei meinem supergenauen Projekt da, und fummel mich super ungenau mit falschen Nahzugaben durch. „Wie war das – warum genau tust du dir das nochmal an?“ wollte das Kleinhirn an dieser Stelle wieder wissen.
Egal. Dann dauert’s halt etwas länger. Ist ja nicht, als ob ich heute noch etwas vorhätte. Um 17:00 Uhr, als die Museumsangestellten pünktlich in den Feierabend gingen, kam Hausmeister Jin zu mir, brachte mir ganz selbstverständlich den Schlüssel und verabschiedete sich. Innerlich musste ich grinsen. Letztes Jahr hatten wir über mehrere Wochen hinweg eine Diskussion, ob ich alleine im Museum bleiben könnte. Dieses Jahr war es bereits eine Selbstverständlichkeit. Ich habe noch bis um 18:00 Uhr weitergearbeitet aber ganz fertig bin ich nicht geworden. Morgen ist auch noch ein Tag.
Jetzt hieß es erst mal, etwas fürs Abendessen zu besorgen. Meine Tochter hatte schon gefragt, ob der neue Supermarkt unter meinem Hotel immer noch so ohrenbetäubend laute Durchsagen in Dauerschleife laufen lassen würde. Das musste ich natürlich eruieren. Ich zeige euch hier mal ein Video von der Obstabteilung. Mein Fazit ist: Die Lautstärke ist gegenüber vergangenem Jahr um einiges runtergeregelt worden. Allerdings würde ich nach wie vor verrückt, wenn ich den ganzen Tag dort Kunden bedienen sollte.
Ich hab mir eine kleine Obst-Auswahl gekauft und bin aufs Zimmer gegangen. Dort erst fiel mir auf, dass ich wieder vergessen habe, mir ein kleines Messer zu besorgen. Standesgemäß habe ich also die Mango mit einem Nahtrenner angeschnitten und mit einer Applikationschere geschält. Ich kann bis hierhin hören, wie mein Mann mit den Augen rollt. Keine Sorge, ich hab den handgedrechselten Nahtrenner aus Holz anschließend abgewaschen. Jetzt kann ich auch noch hören, wie er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn klatscht.
Die Mangos sind hier nach wie vor eine Sensation, die Mini-Mandarinen auch. Die Pfirsiche sind etwas klein und duften super lecker, der Geschmack hingegen zwar nicht schlecht, aber auch nichts Dolles. Und diese Litschi-artigen Früchte schmecken eher nach Nuss als nach Frucht. Das war letztes Jahr anders. Vielleicht waren sie schon alt. Oder die Dauerbeschallung ist ihnen nicht bekommen. Das muss ich mal genauer erkunden.