Ich nehme euch mal mit zu einem Festessen. Das ist fester Bestandteil jeder Station meiner Reise. Mittlerweile kenne ich mich voll aus.😊 Das Restaurant besteht nicht aus einem großen Gastraum und eventuell einem Nebenraum, wie bei uns, sondern eher umgekehrt aus vielen privaten Esszimmern und vielleicht einem kleinen Raum mit mehreren Tischen, für Leute, die nur in einer ganz kleinen Gruppe unterwegs sind. Das ist eher die Ausnahme. In so einem privaten Esszimmer steht meistens ein großer, runder Tisch mit einem Drehteller in der Mitte. Dieser Drehteller wird von einem Motor angetrieben. So kommt das Essen ganz bequem bei jedem Gast immer mal wieder vorbei.
Der Sitz, der am tiefsten im Raum drin ist und in Richtung Tür blickt, ist der Ehrenplatz. Dort sitzt der Gastgeber, der das Fest gestaltet. Das ist bei uns Herr Yang. Er macht das zu gerne. Neben ihm die Gäste mit dem höchsten Status. Der Gast mit dem geringsten Status sitzt am nächsten zur Tür. In unserem Fall ist das Sammi, die Sekretärin von Mister Yang. An jedem Platz sind ein oder zwei Teller eingedeckt und dazu eine kleine Reisschüssel. Rechts daneben liegen auf einer Art Messerbänkchen die Ess-Stäbchen. In vornehmen Lokalen findet man oft zwei Paar Stäbchen. Das Schwarze ist stets für den eigenen Gebrauch gedacht. Stäbchen, die eine andere Farbe haben, verziert sind oder besonders lang sind, sind dafür bestimmt, in die vorbeifahrenden Schüsseln zu greifen und sich aus dem gemeinschaftlichen Essen zu bedienen. Ich glaube nicht, dass es in dieser Ecke von Shaoxing ein Lokal gibt, dass so vornehme wäre. Aber dieses hier ist ganz bestimmt nicht schlecht. Ich bin immer ganz froh, wenn es nur einen Satz Stäbchen gibt. Ich erwische mich sonst ständig, wie ich mit meinen schwarzen Stäbchen in den Gemeinschaftsschüsseln unterwegs bin. Das passiert aber allen anderen auch.
Es gibt eigentlich immer schwarzen Tee, manchmal Saft aus roten Bohnen, die in der Restaurantküche zu Saft verarbeitet und individuell gewürzt werden. Kingt schlimm, ist es aber nicht. Man muss sich nur die Bohnen wegdenken. Manchmal bekommt man auch Maissaft oder Kokosmilch. An den Maissaft habe ich mich noch nicht herangewagt. Wenn es der Gastgeber besonders gut meint bekommt jeder gleich zu Anfang ein Glas Wein. Die Region um Shaoxing ist für ihren Reiswein bekannt. Normalerweise wird der zum Kochen verwendet, aber hier wird er auch getrunken. Er ist schwerer als herkömmlicher Wein und das macht den Frauen in der Abendgesellschaft immer etwas zu schaffen. Zu Beginn des Essens spricht der Gastgeber einen Toast aus und dann wird eigentlich erwartet , dass man sein Glas in einem Zug leert. Das machen die Männer auch fleißig, bei den Frauen ist es gesellschaftlich akzeptiert, wenn man an dem Glas nur etwas nippt. Anschließend erfordert ist die Höflichkeit, dass man mit jedem der anwesenden Gäste einmal anstößt. Das läuft in aller Regel so ab, dass der Gastgeber seinen Hauptgästen auf seiner linken und rechten Seite zuprostet und mit ihnen noch mal ein Glas leert. Anschließend lobt man gegenseitig seine Tugenden und unterhält sich dann noch ein bisschen und prostet sich ein zweites Mal zu. Die Herren gerne mal mit einem neuen Gläschen.
Man kann sich leicht vorstellen, dass das bei großen Gruppen eine nicht zu verachtende Alkoholmenge bedeutet. Asiaten vertragen genetisch bedingt wenig Alkohol, wobei die Frauen noch weniger vertragen. Was an so einem Abend aber auf keinen Fall passieren darf, ist dass man sichtlich einen in der Krone hat. Je größer die Gruppe, desto größer die Gefahr. Kann mir nicht passieren. Ich bin von dem Reiswein kein sonderlicher Fan. Zu wenig zu trinken ist allerdings eine Beleidigung für den Gastgeber ,deswegen muss man jeden Fall das erste Glas leeren. Auf welche Weise auch immer. Bei unserem Essen habe ich eine Professorin dabei beobachtet, wie sie die Hälfte ihres Weinglases in einem Tempo Taschentuch unterm Tisch entsorgt hat und danach mit Tee aufgefüllt hat.
Übrigens: Tischmanieren. Da werden bei uns in Deutschland die wildesten Geschichten erzählt. Teilweise stimmt es. In China wird geschmatzt und es wird auch viel ausgespuckt. Das muss man auch, weil die Knochen aus dem Fleisch nicht ausgelöst werden und Erbsen zum Beispiel mit Schote gekocht werden. Aber je gehobener das Restaurant, desto dezenter benimmt man sich. Wenn man richtig was erleben will, muss man in ein Dorflokal gehen. So eine richtige Spelunke. Aber da bin ich zum Glück eher selten. Das nur nebenbei.
Da die Tische in aller Regel sehr groß sind und meistens 20 Personen anwesend sind, setzt jetzt eine regelrechte Völkerwanderung ein. Manchmal gehen der Gastgeber und die Ehrengäste zu den anderen Gästen, um anzustoßen. Oftmals ist es aber auch umgekehrt, dass die anderen Gäste der Reihe nach zu den Hauptgästen kommen. Wenn jemand mit dir anstoßen möchte, ist es höflich, aufzustehen. Man hält das Glas in der rechten Hand und stützte mit der linken Hand unten den Boden. Der Gast mit dem niedrigeren Status hält sein Glas dabei unbedingt tiefer als das Glas des Ehrengastes. Wenn man bei einer Person fertig ist, geht man nicht etwa weiter zur nächsten Person, sondern man kehrt nach jedem einzelnen Gast wieder an seinen eigenen Platz zurück, isst ein paar Bissen, wartet, dass sein Glas wieder aufgefüllt wird und zieht dann wieder los. Da kaum Kellner im Raum sind, ist es die Aufgabe der jüngsten Gäste bzw. der Gäste mit dem niedrigsten Status, die Gläser der anderen Gäste immer wieder nachzufüllen. Sammi schenkt also fleißig nach, ist aber selbst kaum an dem Gelage beteiligt. Als alle Gäste einmal bei mir am Platz waren, stehe ich auf und bahne mir meinen Weg zu Sammi. Sie strahlt über das gesamte Gesicht, das ich ihr anstoße. Anschließend gehen auch einige der Kursteilnehmer:innen zu ihr. Allerdings wäre es undenkbar, dass Mister Yang zu ihr gehen würde, um mit ihr anzustoßen. Zu groß der Statusunterschied.
Die Aufgabe der Kellner beschränkt sich darauf , immer wieder neue Speisen auf den Tisch zu stellen. Als Faustformel kann man davon ausgehen, dass pro Gast eineinhalb Speisen bestellt werden. Bei einer Feier mit 18 Personen kann man also davon ausgehen, dass 27 Speisen serviert werden. Es ist immer eine ungerade Zahl, weil das Glück bringt. Das letzte Gericht ist immer Reis. damit wird die Großzügigkeit des Gastgebers betont, der nicht versucht, seine Gäste mit billigen, stärkehaltigen Speisen satt zu bekommen. Es ist nicht unhöflich, den Reis zu essen, allerdings sollte man nur in Maßen davon essen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass man noch Hunger habe. In Shaoxing wird das Ritual mit dem Anstoßen damit beendet, dass der Gastgeber fragt, ob man noch Reis essen möchte. Wenn man dies bejaht, was ich jedem nur empfehlen kann, erfolgt die allgemeine Aufforderung „Ganbei!“ was so viel heißt wie „Auf Ex!“. Damit leert jeder sein Glas endgültig und es wird auch nicht mehr nachgefüllt. Man setzt sich dann gemütlich hin, knabbert an den vorbeifahrenden Speisen noch weiter und isst etwas Reis, das gilt als gesund.
Dieses ganze Ritual führt dazu, dass es im Raum immer lauter wird. Die Stimmung ist ausgelassen und lustig. Das ganze endet Abrupt. Jemand gibt das Zeichen für das obligatorische Gruppenfoto und dann zieht man wieder los. Diejenigen, die etwas getrunken haben, bestellen einen Fahrradkurier – der packt sein Fahrrad in den Kofferraum des Kunden, fährt den Klienten in seinem eigenen Auto nach Hause und fährt dann wieder mit dem Fahrrad zurück. In China gilt eine strenge 0,02 ‰ Regel (sprich: es geht GAR NICHTS), die genauestens eingehalten wird. Wer dagegen verstößt hat im geringsten Fall mit drei Monaten Führerscheinentzug zu rechnen, Gefängnisstrafen gibt es ab 0,08 ‰.Dann ist die Party echt vorbei und das wäre schade – man verpasst richtig was.