Sonntag bringt mich Sammi zum Bahnhof und ich fahre mit dem Zug nach Ningbo, wo mich Pang in Empfang nimmt. Sie freut sich total. Wir haben uns zuletzt im September beim Patchwork-Treffen in Frankreich gesehen. Damals war ich sozusagen ihre Fremdenführerin. Jetzt legt sie alles daran, sich zu revangieren. Als allererstes machen wir einen Spaziergang rund um den Old Town Temple. Dort ist seit dem chinesischen Neujahrsfest eine Art Jahrmarkt aufgebaut, der immer noch steht. Dies ist das Jahr der Schlange. Letztes Jahr war ich etwas enttäuscht gewesen, dass ich nicht so viele Drachen gesehen habe, wie ich erwartet hatte. Dieses Jahr finde ich überall stilisierte oder kindliche Abbildungen von Schlagen. Das sieht sich rein bis in den Tempel. Er wirkt dadurch noch farbenroher, was ich bei meinem Besuch im vergangenen Jahr nicht für möglich gehalten hätte.
Dann geht es in ein Fischlokal. Das war klar – Pang ist am Meer aufgewachsen und isst für ihr Leben gern Fisch. Beim Essen besprechen wir das Programm der kommenden Woche. Ich hatte vier verschiedene Kurse vorgeschlagen. Darunter Muster, die von Chinesischen Fenstern inspiriert sind, für den ich 2-3- Tage angesetzt habe und auf ihr Bitten auch den Kurs „Bienen Sticken“ mit ½ Tag. Sie hatte sich dann doch für die Chinesischen Fenster entschieden, weil ich 3 Tage in Ningbo unterrichten soll. Ihr ahnt schon, es wird anders kommen. Ich hingegen hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinen blassen Schimmer.
Montag verbringe ich bei ihr im Studio und bereite meine Kursmuster vor. In Deutschland hatte mir im Vorfeld schlichtweg die Zeit nicht gereicht, um meine Muster zu nähen. Außerdem ist es immer gut, sich die einzelnen Schritte nochmal vor Augen zu führen und drittens sind die Muster, die ich hier nähe alle neue – ich habe also auch noch gar kein Handout. Also nähe ich und fotografiere Schritt für Schritt. Ich kenne mich aus, komm auch gut voran.
Am Nachmittag fragt Pang mich, ob ich Lust hätte, Abends mit ihr und ihrem Mann „kleine Lobster“ essen zu gehen. Sowieso! Wir fahren in die Innenstadt, an den Fluss, direkt an die Stelle, wo mich das Taxi vor einem Jahr unverhofft abgesetzt hat, nachdem der Taxifahrer sich keinen Reim daraus machen konnte, wo ich eigentlich hinwollte (zum höchsten Hochhaus in Ningbo – das allerdings damals noch Baustelle war. Er hat daher beschlossen, dass da kein Mensch hinwill und hat daraufhin ein Hochhaus am Bund gewählt, das ihm passender erschein. War es auch.) Und jetzt gehe ich mit Pang in ein Lokal neben eben diesem Hochhaus, wo wir nicht nur ihren Mann, sondern 6 weitere Freunde und Kollegen treffen. Die Stimmung ist ausgelassen. Zu meiner Überraschung trinken nicht nur die Männer Alkohol, sondern auch die Frauen. Und hier gibt es sogar echte Biergläser! Also nicht 0,5 Liter, aber immerhin 0,33 Liter, was für chinesische Verhältnisse schon riesig ist. Die „kleinen Lobster“ entpuppen sich als Flusskrebse. Ningbo ist eine Hafenstadt am Meer. Gut, die haben auch einen breiten Fluss, der schiffbar ist, aber trotzdem war ich nicht auf Flusskrebse eingestellt. Sie sind in viele Knoblauch eingelegt, teils mit Brühe gekocht, teils gedämpft und schmecken hervorragend. Ich verstehe nur einen Bruchteil der Unterhaltung und sie lachen sich tot bei meinen kläglichen Versuchen, diese Bruchstücke in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Ist mir egal. Die Aufgabe des Gastes ist, den Gastgeber zu unterhalten. Ich denke, ich habe an diesem Abend meinen Part erfüllt. Als wir aufbrechen, deutet einer der Freunde an, dass er sich den Rest Bier als Wegzehrung in die Hosentasche füllt. Ich ahme ihn nach und „fülle“ mir Wein (aus einer leeren Karaffe) in die Hosentasche. Pang kriegt sich vor lachen nicht mehr ein. Es gibt ein Video von der Szene. Ab sofort bin ich in China erpressbar. Aber das macht nichts. Seit diesem Abend habe ich in Pang nicht nur eine chinesische „Schwester“, sondern daneben jetzt auch noch 4 chinesische „Brüder“. Kann nix mehr schief gehen.
Dienstag wieder im Studio zeigt mir Pang stolz die Poster, die sie als Kursankündigung erstellt hat. Darauf prangt mittendrin meine Biene. Und jetzt fällt endlich auch bei mir der Groschen. Ich soll beide Kursthemen unterrichten. Spannend! Erst recht, nachdem wir das Material dafür gar nicht haben. Macht nichts. Das kann man alles bestellen. Eigentlich war ich auch ganz froh gewesen, dass die Biene (nach meinem Verständnis) nicht genommen worden war, weil ich meine Bienen immer mit der Stickmaschine sticke. Ich kann das zwar auch manuell, aber das ist immer so eine Sache, wie gut mir eine Vorführung gelingt. Es fehlt einfach die Übung. Ich hatte in Shaoxing die Kursmuster für „Chinesische Fenster“ genäht. Also nutze ich heute die Zeit, um eine Biene frei Hand mit der Maschine zu sticken. Immerhin sind die Maschinen super. Im Klassenzimmer ist eine Mitarbeiterin von Bernina Shanghai schon dabei, 12 Maschinen aufzubauen. Pang hat in ihrem Studio auch noch drei Berninas, die restlichen 3 Plätze rüsten sie mit einfachen Maschinen aus dem Klassenzimmer auf. Es ist im Vergleich zum Vorjahr ein Unterschied wie Tag und Nacht 🙂 . Kann losgehen.
Die 18 Kursteilnehmerinnen sind teils Lehrerinnen für Textilkunst, teils Inhaberinnen von Textil-Studios aus der weiteren Umgebung. Fit sind sie alle. Auch das ist gegenüber dem Vorjahr eine Verbesserung. Letztes Jahr hatte ich über 40 Leute im Kurs, die zum Teil noch nie genäht hatten. Heute können wir also gleich richtig loslegen. Die Frauen nähen um die Wette, es ist irre. Nur einer Dame ist das Tempo anscheinend immer noch zu langsam. Sobald sie mit einem Schritt fertig ist, drängt sie immer, dass ich die nächsten Anweisungen gebe. Sie sei schließlich zwei Stunden gefahren, um herzukommen, da müsse sie jetzt das maximale aus dem Kurs rausholen. Das kann ich zu einem gewissen Grad sogar verstehen. Und normalerweise habe ich auch kein Problem damit, die Teilnehmerinnen im unterschiedlichen Tempo arbeiten zu lassen. Aber jetzt gerade geht das schlecht. Wenn ich jetzt neue Maße angebe und einen neuen Schritt, kann ich darauf warten, dass die Langsameren durcheinanderkommen. Noch dazu, wenn ich mit einer Übersetzerin arbeite. Sie muss also 10 Minuten warten und ist sichtlich unzufrieden. Super – wenn das so weitergeht, kann das noch heiter werden. Als ich die nächsten Anweisungen gebe, hetzt sie sofort los, kaum, dass ich ausgesprochen habe. Dafür ist allerdings der Kursleiterinnen-Gott (wer auch immer das ist) auf meiner Seite: 17 Teilnehmerinnen nähen ihre Stoffe richtig zusammen, die eine Dame nicht. Sie muss ihre Elemente alle nochmal nähen. Und damit ist Ruhe im Karton.
Am zweiten Tag führe ich die Biene vor, es klappt wie am Schnürchen. Läuft. Trotzdem finde ich die Tage anstrengend. Ich habe seit Montag immer wieder Kopfschmerzen, hin und wieder habe ich im rechten Auge eine Aura. Der Lärmpegel in Kursen in China ist teils ohrenbetörend. Jeder hat zu allem eine Meinung, manchmal gefühlt zwei oder drei. Alles muss lautstark besprochen und kommentiert werden. Und ständig sind meine Sachen weg. Also nicht böswillig. Aber es leihen sich alle regelmäßig und ungefragt mein Werkzeug aus, was mich im Prinzip nicht stört, außer ich soll gerade vorführen und finde meine Sachen nicht. Das ist aber in allen bisherigen Kursen das Gleiche gewesen: Alle können alles benutzen. Vom Ansatz her finde ich das nicht mal schlecht, nur zwischendrin beim Vorführen kann es wie gesagt etwas anstrengend werden.
Eine andere Sache, die mir immer wieder passiert, ist, dass meine Übersetzerin immer mal wieder verschwindet. Womit ich kein Problem hätte, wenn sie sich abmelden würde. Tut sie aber nicht – dabei würde sie ja englisch sprechen. Ohne sie bin ich quasi wie amputiert. Ich kann zwar mit Zeigen und Deuten und mit Hilfe der anderen Teilnehmerinnen in der Regel Fragen beantworten. Aber vorführen ist schon etwas anderes. Und wenn sie dann unterwegs ist, stockt der ganze Kurs. Aber da ist sie völlig unbekümmert.
Gleich am ersten Kurstag erlebe ich bei meinen eigenen Kursmustern ein blaues Wunder: In Shaoxing habe ich mir zwei Stoffe ausgesucht. Beides sind nach meinem Dafürhalten kommerzielle Stoffe, beide lagen auf Ballen aufgerollt im Regal. Er hellere hat einen kleinen Strech-Anteil, den ich anfangs nicht bemerkt habe. Gut, das kriegt man schon in den Griff. Und der andere blutet aus. Das merke ich, als ich die Biene auf einen gepatchten Hintergrund gestickt habe und das wasserlösliche Vlies auswasche. Plötzlich hat das ganze Ding schwarze Flecken und Schlieren. Ich krieg ´nen Vogel. Das Ding sieht aus wie Hulle. In Deutschland wäre mir das vermutlich nicht ganz so wichtig, aber hier, wo alle im Kurs alles fotografieren und die Sprache als Mittel für Erklärungen eingeschränkt ist, nervt mich das schon mehr. Meine Kursmuster haben für mich hier eine ganz andere Bedeutung als daheim.
Abends ist der gesamte Kurs zu einem Bankett in Erdgeschoss meines Hotels eingeladen. Während ich unten mit den Teilnehmerinnen esse, weicht oben auf meinem Zimmer das verhunzte Anschauungsmuster im Waschbecken ein. Siehe da: das klappt. Gerettet. Am darauffolgenden Tag läuft mein Bügeleisen unverhofft mitten auf dem nächsten Muster aus. Lauter schwarze Flecken… Anscheinende versucht der Kursleiterinnen-Gott, ein Gleichgewicht bei Glück und Unglück wiederherzustellen. Also gut. Ab zum Waschbecken am Ende des Gangs. Das im Übrigen kein Warmwasser hat. Wenn man das möchte, muss man zum Heißwasser-Automat, der um die Ecke steht. Der spuckt auf Knopfdruck kochend heißes Wasser aus, das ich dann in einer Schüssel zum Waschbecken vor den Toiletten trage. Die Mühe lohnt sich – die Flecken verschwinden.
Was auch verschwindet, ist meine Biene, die ich am zweiten Tag an der Maschine live und frei Hand im Kurs gestickt habe. Das ist insofern bemerkenswert, als dass mir in China noch nie etwas abhandengekommen ist. Klar, die Teilnehmerinnen leihen sich alles Mögliche aus, es kommt aber auch alles zurück. Bis hin zur letzten Stecknadel, die mir am Ende des Kurses hinterhergetragen wird. Pang ist völlig aus dem Häuschen, dass die Biene weg ist. Sie sucht das ganze Klassenzimmer mehrfach ab. Mich stört es nicht sonderlich, ist schließlich nur ein Vorführmodell (die Biene, die ich am Vortag genäht habe, ist noch da), aber das Besondere daran ist eben, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass jemand die willentlich entwendet hat. Vielleicht versehentlich beim Aufräumen mit eingesteckt, aber ganz bestimmt nicht absichtlich. Meinen Glauben an die Ehrlichkeit der Leute hier kann man so leicht nicht erschüttern.
Und so packe ich am Ende des dritten Tages meine 7 Sachen wieder an – ohne Biene – und beende meinen Aufenthalt als Gastdozentin in Ningbo. Die Teilnehmerinnen sind mit ihren Ergebnissen zufrieden, und ich auch. Wenn jetzt auch noch die dusseligen Kopfschmerzen weggehen, ist es perfekt.