China

Barbara Lange

Wieder unterwegs mit Jin

23.03.2025

Jin hat gefragt, ab wann ich denn Samstag im Museum arbeiten würde. Ich hatte 9:30 Uhr versprochen. Kaum hatte ich die erste Naht genäht, da stand er da wie aus dem Boden gewachsen und meinte: „Let’s go!“ Brav bin ich aufgestanden und ihm hinterher getrabt, ohne Recht zu wissen, wo es überhaupt hingeht. Aber in weiser Voraussicht hatte ich heute extra bequeme Schuhe angezogen, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein. An dem Versuch, mir einen chinesischen Knoten zu binden, war ich am Morgen kläglich gescheitert. Vielleicht finde ich heute wieder jemand, der mir das zeigt. Mehr stand nicht auf meiner Agenda.

Wir gingen in Richtung Bus und fuhren wieder in die Innenstadt. Unser erstes Ziel waren die Gärten von Shen. Das ist eine kleine Gartenanlage, die auf engstem Raum zeigt, welche Vielfalt die chinesische Gartenbaukunst aufzuweisen hat. Auf Schritt und Tritt passt Jin auf mich auf, als ob ich drei Jahre alt wäre. Ich könnte ja stolpern. Oder überfahren werden. Oder beides. Besser ist, er hält mich am Arm fest. Und weil ich so brav bin, bekomme ich prompt ein Eis. Es ist gefrorenes Milcheis mit Erdbeergeschmack. Gar nicht mal schlecht.

Man merkt, dass heute Samstag ist und bei dem schönen Wetter nicht nur wir, sondern geschätzt fünf Millionen andere Chinesen auch auf die Idee gekommen sind, einen Tagesausflug zu machen. Trotzdem ist es noch erträglich. Irgendwie schaffen wir es, die Menschenmengen immer nur von der Ferne zu sehen, uns aber immer genau dort aufzuhalten, wo es gerade ziemlich leer ist.

Vor dem Eingang zu dem Garten gibt es eine Anlegestelle für die traditionellen schwarzen Boote, die für die Region um Shaoxing typisch sind. Ich frage Jin, er damit schon mal damit gefahren ist. Er meint, vor 35 Jahren sei das letzte Mal gewesen. Ich vermute mal, dass dieser Luxus das bescheidene Budget eines Hausmeisters sprengt und lade ihn daher zu einer Bootsfahrt ein. Die Boote sind ähnlich schmal, wie die Gondeln in Venedig. Man sitzt nebeneinander auf kleinen niedrigen Holzbänken. Der Gondelier hat nur ein großes Paddel, das er mit dem blanken Fuß bedient. Als wir unter einer Brücke drunter herfahren, wird ganz klar deutlich, dass ich mit meinem 180 cm nicht für diese Gondeln gemacht bin. Ich muss mich schier ins Boot legen, damit ich nicht mit dem Kopf an der Decke anstoße. Kann natürlich auch sein, dass Jin einfach nur mit seinem Welpen übervorsichtig ist und ich mich deswegen tiefer ducken muss, als eigentlich notwendig wäre.

Am Ziel unserer Fahrt angekommen, suchen wir etwas zum Mittagessen. Und selbstverständlich werden wir nicht in eine überteuerte Touri-Kneipe gehen. Jin steuert zielbewusst durch die Menschenmengen hindurch in eine verlassene kleine Nebengasse, die total malerisch ist. Es gibt mehrere kleine Restaurants, aber nur ein einziges, das draußen auch nur einen einzigen kleinen Tisch hat. Der Tisch erinnert an die hölzernen Picknick-Tische mit den fest montierten Bänken, die man in Kindergärten findet. An dem sitzen zwei junge Damen. Wenn die Tischplatte es zulassen würde, hätten sie die Kniee bei den Ohren. Mir wäre schon lieber, wir könnten draußen essen, das Wetter ist einfach zu schön, um in einem dunklen Loch zu sitzen. Allerdings wäre ein größerer Tisch auch recht. Jin marschiert in das Restaurant und bittet um einen zweiten Tisch draußen. Sofort flitzt der Inhaber los, um einen Klapptisch aufzubauen. Der ist sogar normal hoch.

Dazu gibt es zwei Plastikhocker, die fast genauso hoch sind wie der Tisch. Nicht ideal, aber wird schon gehen. Als erstes bringt der Kellner Shaoxing-Wein. War klar. Ich bin schließlich mit Jin unterwegs. Wein gehört für ihn zu jeder Mahlzeit. Aber er hat damit offensichtlich noch ganz andere Pläne. Während der Kellner den Tisch eindeckt, quatscht Jin bereits die beiden Mädels an dem anderen Tisch an. Er bietet Ihnen von dem Wein an. Sie nehmen widerstrebend an. Ich habe den Eindruck, dass sie ihm zwar höflich antworten, sich aber eigentlich auch ohne ihn prima unterhalten können. Jin empfindet das offensichtlich anders. Er packt unseren Tisch und stellt ihn neben ihren. Ich protestiere, dass die Mädels bestimmt ihre Ruhe haben möchten. „Unsinn“, meint Jin. „Wieso Unsinn?“ fragt das Kleinhirn, während ich die Plastikhocker rüber räume. Jin fängt unterdessen an, munter unsere Gedecke  auf den Kindergartentisch der Mädels zu räumen. Oh je. Es wird von Sekunde zu Sekunde peinlicher. Die Mädels sind gut erzogen und machen uns Platz. Jetzt sitzen wir zu viert an dem Zwergentisch. Der Kellner kommt, räumt und unseren Klapptisch weg und serviert unsere Bestellung.  Dafür ist auf dem Tisch nicht genügend Platz, also stapelt er die Teller so, dass sie versetzt übereinanderstehen. Jeder isst von jedem Gericht, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Und dann stellt sich heraus, dass die eine junge Frau fließend Englisch spricht. Ich entschuldige mich für unseren Auftritt und sie meint, das sei in gewisser Weise tatsächlich normal in China, wobei mein guter Jin selbst für chinesische Verhältnisse extrem kommunikativ wäre. Da bin ich ja beruhigt. 

Die junge Frau heißt LingLing, hat Medizin studiert und arbeitet für ein internationales Pharmaunternehmen in Shanghai. Sie macht mit ihrer Freundin einen Tagesausflug nach Shaoxing. Offenbar wollen sie ähnliche Ziele besuchen wie wir, woraufhin Jin sie bittet, ob wir uns anschließen können. Ich meine zu erkennen, dass ihre Begeisterung überschaubar ist. Egal. Es ist abgemacht.

Was dann passiert, lässt darauf schließen, dass Jin ihnen erzählt hat, dass ich mit am Morgen nicht geschafft habe, mir meinen chinesischen Knoten zu binden. Auf jeden Fall packt die Freundin eine Bürste aus und fängt an, mit Hilfe eines Videos meine Haare hochzustecken. Eine wildfremde Frau, deren Tisch wir grade gekapert und deren Fisch wir mitgegessen haben, steht da und frisiert mich. Das Kleinhirn fragt „Wie schaffst du es immer wieder, in solche Situationen hineinzugeraten!?!“ Ich schwör, ich bin unschuldig.

Zusammen ziehen wir zum Wohnhaus des ersten Premierministers von China. Dort gelingt es den Mädels endlich, uns abzuschütteln. Zu zweit ziehen wir zu der „Bazi“ Brücke. Das heißt übersetzt „Zahl Acht Brücke“. Ich Schaf erwarte eine Brücke, die vielleicht zusammen mit einer Wasserspiegelung wie eine 8 aussieht. Ja. Nee. Gemeint ist das chinesische Zeichen für 8 (). Wie eine Brücke diesem Schriftzeichen in irgendeiner Weise ähneln können soll ist mir schleierhaft, aber was weiß ich schon. Übrigens war ich vor 1 ½ Jahren schonmal im Stockdunklen mit Gabe bei dieser Brücke. Wir haben uns damals ganz fürchterlich verlaufen. Und was uns entgangen ist – 20 Meter weiter gibt es eine zweite Brücke. Die in ihrer Form auch nicht recht viel ansprechender ist. Da haben wir bei unserem Streifzug durch die Stadt ganz andere gesehen, die nicht berühmt sind

Nach dem Besuch der Brücke gehen wir zum Fushan-Park. Es ist ein ziemlicher Fußmarsch dorthin und der Park selbst ist auch nicht klein. Auf der Spitze des Berges steht ein fünfstöckiger Pavillon, der ein spektakulären Blick ringsum die Stadt Schaoxing bietet. In der Ferne kann man ahnen, wo sich das Museum befindet und wir beschließen, den Rückweg anzutreten. Mittlerweile sind wir beide durch. Jin hat sich redlich gequält, mir Sehenswürdigkeiten in Shaoxing zu zeigen, die ich bislang noch nicht kannte und so ein bisschen drängt sich mir der Verdacht auf, dass er selbst nicht so ganz firm ist mit dem Verkehrsnetz der Stadt. Wir laufen ca. eine Stunde zurück zu unserer Buslinie, mit der wir auch hergekommen sind. Auf der Fahrt fällt uns irgendwann auf, dass wir direkt am Fushan Park entlangfahren. Vermutlich hätte es also auch eine geschicktere Bushaltestelle gegeben – aber was soll’s. Gesehen haben wir auf jeden Fall eine Menge und eins ist sicher: wir beide werden heute gut schlafen.